© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/12 10. August 2012

Das Kreuz mit der Meinung
Paragraph 130 Strafgesetzbuch: Im Spannungsfeld zwischen Demokratieschutz und Maulkorberlaß
Felix Krautkrämer

Das Strafgesetzbuch der Bundesrepublik umfaßt 358 Paragraphen. Von Mord über Urkundenfälschung bis hin zum Stromklau – es gibt so gut wie keine Tat, die nicht darin definiert und mit einem entsprechenden Strafmaß belegt wird. Die meisten der Paragraphen dürften nur Juristen bekannt sein – und vielleicht denen, die auf ihrer Grundlage verurteilt wurden. Lediglich einige Ausnahmen wie der Abtreibungsparagraph 218 oder das 1994 aufgehobene Verbot homosexueller Handlungen unter Männern nach Paragraph 175 wurden aufgrund der an ihnen entstandenen gesellschaftlichen Debatten zum Allgemeinwissen.

Letzteres dürfte auch für den sogenannten Volksverhetzungsparagraphen 130 gelten, und dennoch ist dieser wohl mit keiner anderen Bestimmung aus dem Strafgesetzbuch zu vergleichen. Denn Paragraph 130 stellt explizit bestimmte Meinungen unter Strafe, sobald diese öffentlich geäußert werden. So drohen demjenigen, der zum Haß oder zur Gewalt gegen eine „nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe“ aufruft oder diese „böswillig verächtlich“ macht, bis zu fünf Jahre Haft (Absatz 1 und 2). Gleiches gilt für denjenigen, der die unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen öffentlich billigt, leugnet oder verharmlost (Absatz 3).

Mit einer bis zu dreijährigen Gefängnisstrafe sieht sich zudem derjenige konfrontiert, der die Würde der Opfer des Nationalsozialismus verletzt (Absatz 4).

Doch es muß nicht immer gleich das Anzweifeln oder Bestreiten des Holocaust sein, das zu einer Anzeige wegen Volksverhetzung führt. Häufig reicht es auch schon, eine unbequeme oder politisch unkorrekte Ansicht über eine der zahlreichen Minderheitengruppen der Bundesrepublik öffentlich zu äußern.

Diese Erfahrung durfte auch der ehemalige Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin machen. Nach Aussagen über die mangelnde Integrationsbereitschaft vorwiegend muslimischer Einwanderer und deren geringere Bildung kam es gleich zu mehreren entsprechenden Strafanzeigen gegen den SPD-Politiker. So begründete beispielsweise die Türkisch-Deutsche Unternehmervereinigung Berlin-Brandenburg ihr Vorgehen gegen Sarrazin damit, sie wolle auf diesem Weg deutlich machen, daß die von Sarrazin vertretenen Äußerungen nicht tolerierbar seien. Und der Vorsitzende des Bundeszuwanderungs- und Integrationsrates, Karamba Diaby, forderte gar eine Verschärfung und Ausweitung des Paragraphen 130 auf „rassistische und rechtspopulistische Äußerungen“, damit Personen wie Sarrazin die Gesellschaft mit ihren Thesen nicht weiter spalten könnten.

Zwar wurden sämtliche Ermittlungen gegen Sarrazin letztlich eingestellt, doch es gibt genügend andere, weniger prominente Fälle, bei denen die Beschuldigten weniger glimpflich davonkamen. So verurteilte 2009 das Landgericht Zweibrücken den Kommunalpolitiker der Republikaner, Andreas Burkhardt, wegen Volksverhetzung zu einer Geldstrafe von 3.600 Euro, weil dieser in einer Anfrage im Stadtrat von Pirmasens einem „Zigeunerpaar“ aus dem Kosovo „parasitäres und kriminelles Verhalten“ vorgeworfen und sich darüber beklagt hatte, daß diese „Sippschaft“ vom deutschen Steuerzahler versorgt werden müsse. Damit habe Burkhardt das gesellschaftliche Klima vergiftet, begründete der Richter das Urteil.

In einem anderen Fall verurteilte das Landgericht Marburg 2008 zwei Studenten wegen Volksverhetzung zu Geldstrafen, weil sie sich an einer Demonstration gegen einen Verwaltungsgerichtspräsidenten beteiligt hatten, gegen den wegen des Besitzes kinderpornographischer Bilder ermittelt wurde. Da während des Protestzuges, der auch am Wohnort des Juristen vorbeiführte, unter anderem die Forderung „Todesstrafe für Kinderschänder“ skandiert wurde, sah es der Richter des Landgerichts Marburg als erwiesen an, daß die beiden gegen Paragraph 130 des Strafgesetzbuchs verstoßen hätten. Dieser verbiete es unter Androhung von Strafe, zu „Gewalt- oder Willkürmaßnahmen“ gegen einen Teil der Bevölkerung aufzurufen.

Konsumenten von Kinderpornographie als schützenswerter Teil der Bevölkerung? Es ist die breite Auslegungsmöglichkeit, die den Volksverhetzungsparagraphen zu einer so gefährlichen Waffe in der politischen Auseinandersetzung werden läßt. Lediglich Deutsche, die von Ausländern als „scheiß Deutsche“ beschimpft werden, können sich nicht auf ihn berufen. Allein 2.272 Verstöße gegen Paragraph 130 zählte die polizeiliche Kriminalstatistik im vergangenen Jahr (siehe Grafik).

Laut dem Statistischen Bundesamt wurden 2010 467 Personen deswegen vor Gericht gestellt. 319 von ihnen wurden verurteilt, darunter 60 wegen Billigung, Leugnung oder Verharmlosung des nationalsozialistischen Völkermords. Im Jahr zuvor waren es 519 Angeklagte, von denen 371 verurteilt wurden. 44 wegen Billigung, Leugnung oder Verharmlosung des Holocaust.

Zu letzteren zählt auch der frühere RAF-Terrorist und spätere NPD-Anwalt Horst Mahler, der 2009 in mehreren Prozessen wegen Volksverhetzung (Holocaustleugnung) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt wurde. Mahler hatte unter anderem eine CD-ROM an verschiedene Personen geschickt, auf der er den Holocaust als „folgenreichste Lüge der Weltgeschichte“ bezeichnete und sich hierfür auch selbst anzeigte. Außerdem rief Mahler laut Staatsanwaltschaft im Internet zum Kampf der Deutschen gegen die Juden auf und stachelte zu Haß und Abneigung gegen die in Deutschland lebende jüdische Bevölkerung auf. Wegen dieser und anderer ähnlicher Taten verurteilte ihn das Landgericht München II wegen Volksverhetzung in drei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren. Mahlers Revision gegen das Urteil verwarf der Bundesgerichtshof am 4. August 2009 als unbegründet. Im März 2009 wurde Mahler zudem vom Landgericht Potsdam wegen Volksverhetzung in 15 Fällen zu einer Gesamtstrafe von zwei Jahren und vier Monaten sowie wegen vier weiterer Fälle von Volksverhetzung zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Dies ergab zusammen mit dem Münchner Urteil elf Jahre und zwei Monate Haft – wegen Meinungsdelikten.

Daß das Leugnen des Holocausts unter den Tatbestand der Volksverhetzung fällt, geht auf eine entsprechende Erweiterung und Verschärfung des 130er Paragraphen aus dem Jahr 1994 zurück. Bis dahin war die Verneinung der Judenvernichtung lediglich als Beleidigung in Tateinheit mit der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener geahndet worden. Nicht alle Wissenschaftler halten diese Entscheidung für richtig. Der Historiker Eberhard Jäckel beispielsweise kritisierte 2007 im Deutschlandfunk, der Volksverhetzungsparagraph diene dazu, ein bestimmtes Geschichtsbild zu verbieten. Dies halte er einer freien Gesellschaft für unwürdig. Selbstverständlich sei es dumm und unvernünftig, den Holocaust zu leugnen. Die Frage sei nur, ob eine solche Dummheit bestraft werden solle und überhaupt zu irgendeinem Ziel führe.

Und selbst das Bundesverfassungsgericht hat mitunter größte Schwierigkeiten, Teile des im Laufe der Jahre immer mehr ausgeweiteten Paragraphen in Einklang mit der vom Grundgesetz garantierten Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu bringen, was mitunter zu etwas abenteuerlichen Begründungen führt. So urteilten die Karlsruher Richter 2009 (JF 49/09), ein meinungsbeschränkendes Gesetz sei unzulässiges Sonderrecht, wenn es nicht „hinreichend offen gefaßt ist und sich von vornherein nur gegen bestimmte Überzeugungen, Haltungen oder Ideologien“ richte. Der Volksverhetzungsparagraph sei „ausnahmsweise“ aber auch als nichtallgemeines Gesetz mit dem Grundgesetz vereinbar. Zwar diene sein vierter Absatz nicht dem Schutz aller Gewalt- und Willküropfer, sondern nur dem der nationalsozialistischen, die „Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts“ sei angesichts des Unrechts und der Schrecken, die die nationalsozialistische Herrschaft verursacht habe, aber trotzdem gerechtfertigt. Schließlich könne das Grundgesetz geradezu als „Gegenentwurf zu dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes“ gedeutet werden.

Foto: Türkisch-deutscher Protest gegen den SPD-Politiker Thilo Sarrazin und dessen Aussagen zur mangelnden Integrationsbereitschaft muslimischer Einwanderer (Berlin Juni 2010): „Sarrazin zerstört die deutsch-türkische Harmonie“ – Gegen „Volksverhetzung und Rassismus“

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