© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/12 10. August 2012

Die Schuldenbremse gibt es nicht
Euro-Krise: Das Grundgesetz begrenzt nur das Haushaltsdefizit / ESM als Einfallstor für hohe Neuverschuldung
Klaus Peter Krause

Was ist die Schuldenbremse im Grundgesetz wirklich wert? Jedenfalls nicht das, was die meisten darunter zu verstehen meinen. Denn eine echte Bremse für die deutsche Staatsverschuldung kennt das Grundgesetz nicht. Aber haben wir im Frühsommer 2009 nicht in sämtlichen Medien Überschriften wie „Schuldenbremse jetzt im Grundgesetz verankert“ wahrgenommen? Ja, und wurden wir nicht auch in den Folgejahren immer wieder damit beruhigt, das Grundgesetz verpflichte den deutschen Staat auf eine strikte Schuldenbremse, der ausufernden Staatsverschuldung sei nun ein Riegel vorgeschoben, jedenfalls von 2016 an? Ja, aber was damals im Grundgesetz verankert wurde, ist keine Schuldenbremse, sondern eine Defizitbremse.

Worin besteht der Unterschied? Das Grundgesetz begrenzt nur die Kreditaufnahme (Neuverschuldung) des Staates, wenn dieser eine Lücke (Defizit) im Haushalt schließen muß, dies aber nicht mit Steuererhöhungen tun will. Nicht dagegen begrenzt das Grundgesetz Verschuldungen aus Zahlungsverpflichtungen, die der Staat außerhalb seines Etats eingeht oder eingegangen ist. Erst dann, wenn der Staat aus solchen Verpflichtungen konkrete Zahlungen leisten muß, wenn Zahlungen also haushaltswirksam werden, unterliegen sie dem 2009 eingeführten Regelwerk des Grundgesetzes. Folglich begrenzt („bremst“) das Grundgesetz nur das Etatdefizit, nicht aber die Verschuldungsmöglichkeit.

Somit kann es dazu kommen, daß der Staat aus Zahlungsverpflichtungen Zahlungen zu leisten hat, die er nur mit Kreditaufnahme bewältigen kann. Aber diese Zahlungen und damit die Kreditaufnahmen dafür können so hoch sein, daß mit ihnen die vom Grundgesetz vorgegebene Sperrlinie durchbrochen wird. Was dann? Dann wird dieser Fall zur „außergewöhnlichen Notsituation“ erklärt. Das Grundgesetz mit seiner vermeintlichen Schuldenbremse ermöglicht das ausdrücklich: „Im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, können diese Kreditobergrenzen auf Grund eines Beschlusses der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages überschritten werden“, heißt es in Artikel 115. Das gleiche findet sich im 109.

Man kann sich ausmalen, wie weit sich auslegen läßt, was außergewöhnlich und was Notsituation ist. Für höhere Verschuldung über die Defizitbegrenzung im Grundgesetz hinaus wird das zu einem Einfallstor. Übergroße Zahlungsverpflichtungen sind keine Schwarzseherei und keine bloße Theorie, sondern bereits Wirklichkeit. Mit den abenteuerlichen Banken-, Staaten- und Euro-Rettungsschirmen erleben wir sie schon. Wer glaubt, daß von 2016 an die Neuverschuldung für den Bund auf 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) begrenzt ist (Artikel 109 und 115 GG) und daher „nichts mehr passieren“ kann, ist vertrauensselig. Gewiß, begrenzt ist sie, aber gegen solche ausufernden Aktionen wie den sogenannten Euro-Rettungsschirm ESM richtet das Grundgesetz mit seiner Begrenzung des Haushaltsdefizits nichts aus.

Das hat unlängst der Präsident des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, bei der Jahresversammlung 2012 seiner Forschungseinrichtung deutlich gemacht. In seinem bedrückenden Vortrag über „Staatsverschuldung und Generationengerechtigkeit“ sagte er, im Grundgesetz gebe es keine Schuldengrenze. „Das wird zwar immer gesagt, stimmt aber nicht. Es gibt nur eine Defizitgrenze.“ Und ein Defizit zeige nicht den wahren Schuldenzuwachs an, weil alles Mögliche herausgenommen sei. Bankenrettungsaktionen mit Staatsgeld würden in der Defizitrechnung nicht berücksichtigt. „Das Grundgesetz greift nur bei den Defiziten, das heißt, die Schulden werden in keiner Weise durch das Grundgesetz begrenzt. Ob das Bundesverfassungsgericht dies auch so toll findet wie die Politiker, wird sich noch herausstellen.“

Obwohl die beiden Grundgesetzartikel 109 und 115 kurz und populär mit dem Begriff Schuldenbremse bedacht werden, kommt dort der Begriff Verschuldung oder gar Schuldenbremse gar nicht vor. Da ist nur von Haushalt, Haushaltsdisziplin und Kredit die Rede. Aber daß staatliche Zahlungsverpflichtungen über jene Kreditaufnahmen, mit denen der Staat sein jeweiliges Haushaltsdefizit stopft, hinausgehen können, ist im Grundgesetz durchaus berücksichtigt. Artikel 115, Absatz 1 lautet: „Die Aufnahme von Krediten sowie die Übernahme von Bürgschaften, Garantien oder sonstigen Gewährleistungen, die zu Ausgaben in künftigen Rechnungsjahren führen können, bedürfen einer der Höhe nach bestimmten oder bestimmbaren Ermächtigung durch Bundesgesetz.“ Auch die Bestimmung, daß es für solche Kreditaufnahmen eines Gesetzes bedarf, ist keine Sperre gegen staatliche Übermaßverschuldung als Folge zu hoher Zahlungsverpflichtungen (wie beim ESM und dem EFSF der Fall), sondern damit ermöglicht es solche Verschuldung geradezu. Sind die gewählten Politiker von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat in höchste Not geraten, kommt die nötige Mehrheit für so ein Gesetz schnell zustande.

Für den für Deutschland und seine Bürger hochgefährlichen ESM wird ein solches Gesetz benötigt. Aber Verfassungsklagen per Eilantrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung haben vereitelt, daß der Bundespräsident die Ratifizierungsgesetze für den ESM und Fiskalpakt, die der Bundestag am 29. Juni im Bundestag verabschiedet hat, postwendend unterzeichnet hat. Das Bundesverfassungsgericht hatte ihn gebeten, damit zu warten. Es ging darum, vollendete Tatsachen zu verhindern, bevor das Gericht in der Hauptsache entscheiden konnte.

Die Richter haben die schnelle summarische Prüfung, wie sie sonst in Eilverfahren üblich ist, abgelehnt und wollen gründlich prüfen. Das wird, wie das Gericht am 16. Juni bekanntgab, bis zum 12. September dauern. Zumindest bis dahin also liegt das Verabschiedete auf Eis. Die führenden Politiker und ihre Gefolgschaft schäumen; das Überrumpeln auch des Verfassungsgerichts ist schiefgegangen.

Schon der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat zur Schuldenregel die „finanziellen Transaktionen“ unter die Lupe genommen und Konstruktionsfehler, erhebliche Gestaltungsspielräume, Konkretisierungsbedarf und Möglichkeiten zum Umgehen der Schuldenregel offengelegt (Ziffern 305 ff. im Jahresgutachten 2011). Letztlich also hängt es – wie schon bisher – vom politischen Willen der jeweils politisch Herrschenden ab, ob die Staatsverschuldung gebremst, ob zurückgeführt, ob eine Sperrlinie eingehalten wird oder ob nichts dergleichen geschieht. Oder anders gesagt: Es ist weiterhin mit dem Schlimmsten zu rechnen.

Der Vortrag zum Thema „Staatsverschuldung 1950–2011“ von Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn findet sich als Video im Internet: www.youtube.com

Foto: Schuldenbremse ohne Wirkung: Konstruktionsfehler, erhebliche Gestaltungsspielräume, Konkretisierungsbedarf und Möglichkeiten zum Umgehen

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