© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/12 10. August 2012

Zersplitterung vorprogrammiert
Syrien: Nach einem Sturz des Machtapparates droht ein Auseinanderfallen des Staates
Günther Deschner

Ob das lange Andauern der Kämpfe in Syriens Hauptstadt Damaskus und der Wirtschaftsmetropole Aleppo „tatsächlich Assads Sargnagel sein“ wird, wie US-Verteidigungsminister Leon Panetta dieser Tage meinte, ist noch nicht sicher. Doch die Anzeichen dafür, daß so etwas wie das „Endspiel“ um die Macht in Syrien bevorsteht, häufen sich: Erst der gelungene Mordanschlag auf den innersten Machtzirkel um Assad, dann die Flucht des sunnitischen Ministerpräsidenten Riyad Hidschab nach Katar oder das völlige Scheitern der UN-Mission. Nachdem Washington die von dem Sonderbeauftragten Annan „unverzichtbar“ genannte Beteiligung Irans beim Lösen des syrischen Knotens ausgeschlossen hatte, bestand der ganze Prozeß aus nichts als seinem Fehlstart.

Was vor eineinhalb Jahren mit Armutsprotesten und ungeschickten Gewaltreaktionen darauf durch staatliche Sicherheitsorgane in Deraa begann, hat sich inzwischen zu Auseinandersetzungen entwickelt, bei denen sich innersyrische Probleme und politische Aspirationen ausländischer Mächte überlagern. Innersyrisch machten die Zusammenstöße erneut die scharfen Bruchlinien zwischen Syriens „unversöhnten“ Ethnien, Religionsgruppen und krassen sozialen Unterschieden deutlich.

Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs Bestandteil des Osmanischen Reichs, danach (so wie der Irak) ein nach den Interessen der Westmächte – im Falle Syriens der Kolonialmacht Frankreich – aus arabischen, kurdischen und drusischen Gebieten zurechtgeschustertes, von Sunniten und Schiiten, von Alawiten und Christen bewohntes Territorium, hat der erst 1946 unabhängig gewordene, so vielfältig fraktionierte Staat, bis heute keine Identität gefunden.

Auf dieser Ebene, zwischen Syriens Volks- und Religionsgruppen, wird die zweite Auseinandersetzung, geführt. Ein Großteil der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit steht gegen die das System Assad tragenden Minderheiten der Alawiten, Christen und Schiiten. Auch wenn man sich in Aleppo und Damaskus daran erinnern kann, daß die Religionsgemeinschaften „früher“ miteinander ausgekommen seien, ist heute ein friedliches Nebeneinander kaum mehr vorstellbar.

Die Entwicklung zeigt, daß sich niemand Illusionen über Art und Ausmaß der kommenden Veränderungen machen sollte. Über das sprunghafte Anwachsen der Zahl islamistischer Extremisten in den Reihen der Aufständischen wird berichtet. Immer stärker ist auch die Rhetorik der Milizen geprägt von einem „Heiligen Krieg“, den es gegen das „ungläubige“, weil alawitische, Regime zu führen gelte.

„Würde das Assad-System tatsächlich stürzen“, so analysierte die weltweit angesehenste akademische Kapazität unter den „Syrologen“, der amerikanische Politikprofessor Joshua Landis, „dann wird an ihre Stelle nicht ein in sich gefestigter homogener Staat und schon gar nicht eine westlich geprägte Demokratie treten, sondern es ist mit noch chaotischeren und innenpolitisch noch gewalttätigeren Entwicklungen zu rechnen“. Nicht nur das Vordringen und Festsetzen extremistischer islamistischer Gruppen sei zu erwarten, sondern auch Syriens räumliche Zersplitterung werde fortschreiten – „ob mit oder ohne Assad“.

Die geographischen Bruchlinien entsprechend der ethnischen und religiösen Landkarte zeigen sich in der Tat bereits jetzt. Teile der starken christlichen Minderheit beschleunigen ihre Auswanderung aus Syrien in alle Welt und in großer Zahl auch in die benachbarte „Autonome Region Kurdistan“ im Irak mit der boomenden Hauptstadt Erbil, die um – meist gut qualifizierte – christliche Zuwanderer wirbt.

Im Nordosten Syriens scheint die Assad-Regierung auch die Kontrolle über die dortigen kurdischen Siedlungsgebiete weitgehend eingebüßt zu haben. Den syrischen Kurden ist es schon vor Wochen gelungen, einen prekären De-facto-Staat in ihren Gebieten zu gründen. Sie haben sich vom syrischen Staat losgelöst und auch gebrochen mit der syrischen Exilvertretung, dem „Syrischen Nationalrat“. Sie haben die kurdische Fahne über ihren öffentlichen Gebäuden aufgezogen. Diese sichern sie durch ihre eigenen Kämpfer ab.

Masud Barsani, der Präsident in Erbil, hat eine Art Patenschaft für die Kurden Syriens übernommen. Zwischen den irakisch-kurdischen Behörden und syrischen Kurdenvertretern wurde in Erbil ein Vertrag ausgehandelt, nach dem Barsanis Peschmerga-Streitkräfte syrische Kurden ausbilden – eine Entwicklung, die in der Türkei mit ihrem ungelösten Kurdenproblem für Aufregung sorgt.

Selbst bei Assads Alawiten wird „Endzeitstimmung“ sichtbar: Sie rücken auch räumlich näher zusammen. Berichte aus der Region zwischen den syrischen Hafenstädten Tartus und Latakia lassen erkennen, daß sich dort eine Enklave der Alawiten entwickelt. Die Region – mit ihrem an Rußland verpachteten Hafen Tartus und einigen zehntausend dort lebenden Russen – ist in wenigen Monaten von 900.000 Einwohnern auf 1,2 Millionen angewachsen.

Seit den 1970er Jahren, nachdem Syriens Luftwaffenchef Hafez al-Assad, in Damaskus die Macht übernahm und sie durch „seine“ Alawiten absicherte, ließen sich immer mehr von ihnen in der Küstenebene von Tartus bis Latakia nieder. Der Anteil der Alawiten in dieser Region beträgt 70 Prozent, der der Christen 14 Prozent. Die Sunniten bilden hier mit etwa zehn Prozent eine kleine Minderheit.

Nun sieht es so aus als ob jener Küstenstrich zu einer Art Basis der Alawiten werden könnte, wenn sie sich gezwungen sähen, ihre Frauen und Kinder aus den umkämpften Städten des Landes zu evakuieren.

Foto: Syrische Oppositionelle, darunter Rebellenführer Sheikh Yusuf Saban el Selmo (2.v.r.), nahe Aleppo: Vereinter Kampf gegen Assad – und dann?

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