© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  32/12 03. August 2012

Der Flaneur
Ein artiger junger Mann
Ellen Kositza

Der Typ mir gegenüber fällt in die Kategorie artiger junger Mann, eine fast ausgestorbene Spezies. Er ist nicht cool, trägt kein T-Shirt mit Botschaften, dafür als Frisur etwas, das man als Mittelscheitel deuten mag. Praktische Sandalen untenrum, dazu helle Socken. Dezent riecht er nach einem Alte-Herren-Rasierwasser, dabei ist er höchstens dreißig. Er trinkt Apfelsaft und packt aus einer mitgebrachten Schatulle belegte Brotscheiben aus, wie von Mama geschmiert.

Obwohl Platz ist, hat er den Sitz neben sich nicht mit seinem Rucksack belegt; extrem unzeitgemäß. Er hat gar keinen bei sich, sondern einen kleinen Lederkoffer ohne Rollen, wie von Opa. Falls er einen Laptop besitzt, hält er ihn gerade verborgen. Er liest ein Buch, Fachrichtung Ingenieurwesen. Sein Handy ist ein vorsintflutliches Modell, die Katrin ruft an. Ja, er sitze noch im Zug. Das mit morgen ginge definitiv nicht, tue ihm wirklich leid. Es ärgere ihn selbst, daß dieser Termin dazwischengekommen sei.

Katrin solle nicht traurig sein, sie werden das alles übermorgen nachholen, er freue sich schon sehr: „Ich dich auch! Ja, und wie!“ Der junge Mann studiert weiter. Wenn er gähnen muß, hält er die Hand vor den Mund, eine heute unübliche Geste für Leute, die sich unbeobachtet fühlen dürfen. Ich lese ja auch – mit einem Auge. Vielleicht ist es die Müdigkeit, die ihn später im Bordbistro einen Kaffee bestellen läßt.

Ich stehe hinter ihm und darf das nächste Telefonat mithören. Es ist die Michaela. Ja, er stehe noch im Zug und komme bald an. Nein, bis übermorgen könne er nicht bleiben, ein blöder Termin sei ihm dazwischengekommen. Das tue ihm selbst am meisten leid, er freue sich sehr auf „gleich“. „Ich dich auch! Bis in einer halben Stunde!“

Als er zu seinem Platz im Waggon zurückgeht und ich hinterher, rempeln zwei Mädchen in bauchfreien Hemdchen an uns vorbei und machen freche Kußmündchen in seine Richtung. „Was für’n armer Depp“, kichern die beiden.

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