© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  32/12 03. August 2012

An zeitlosen Werten orientiert
Die Aura des Kulturkonservativen: Zur Einordnung der unlängst erschienenen erweiterten Neuauflage von Botho Strauß’ Aufsatzsammlung „Der Aufstand gegen die sekundäre Welt“
Felix Dirsch

Was verbindet so exzeptionelle Denker wie Thomas S. Eliot, Emil Staiger, George Steiner und Botho Strauß? Auf den ersten Blick nicht viel, auf den zweiten ist es der kulturkonservative Habitus, der bei ihnen zu erkennen ist. Alle sind anerkannt, trotz der nicht unbeträchtlichen Gegnerschaft, die sie hervorrufen.

Der 1888 im US-Bundestaat Missouri zur Welt gekommene, die meiste Zeit seines Lebens aber in England lebende und 1948 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Eliot ist in den fünfziger Jahren in Europa der katholische Kulturkonservative par excellence. Vor allem seine „Essays“ verdeutlichen exemplarisch, was die abendländische Kultur dem Christentum verdankt. In seiner Schrift „The Idea of a Christian Society“ (1939) entwirft der britische Autor ein Staatsgebilde jenseits von Totalitarismus und moderner, relativistischer Demokratie.

Der Schweizer Emil Staiger (1908–1987) gilt in den beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg weithin als der im deutschsprachigen Raum bedeutendste Germanist. Anläßlich der Verleihung des Literaturpreises der Stadt Zürich 1966 hält er eine viel diskutierte Rede. Bei dieser Gelegenheit schlägt er einen Bogen von Homer über Vergil und Dante bis hin zu Leopardi und Rilke, denen er es nicht zuletzt hoch anrechnet, einen Sinn für Gemeinschaft und Humanität entwickelt zu haben. Im Kontrast dazu weist er einen Grundzug moderner Literatur zurück, Zuhälter, Dirnen, Säufer, Verbrecher und andere gestrandete Existenzen als „Repräsentanten der wahren, ungeschminkten Menschheit“ zu glorifizieren. Den Nihilismus bezeichnet er als „Luxusartikel“ der Wohlstandsgesellschaft. Gutes, Wahres und Schönes müßten auch in der Gegenwart grundlegende Richtwerte sein; die Kunst an sich sei nicht verehrungswürdig.

Sogleich nach der Ansprache setzen Philippiken heftigen Ausmaßes ein. Bald macht das Wort vom Züricher Literaturstreit die Runde. Staiger wird öfter – direkt oder indirekt – in die Nähe derjenigen gerückt, die vermeintliche „entartete Kunst“ ausmerzen wollen. Von besonderem Ressentiment getränkt sind die Angriffe seines Landsmannes Max Frisch, der durch die Stellungnahme sogar die Ordinarius-Würde gefährdet sieht.

In seiner Antwort bestreitet der Attackierte, er habe literarisches Schaffen der Gegenwart „pauschal verneint“. Die Verteidigung nützt wenig. Der Ruhm des lange Zeit ob seiner stupenden Gelehrsamkeit Verehrten verblaßt langsam. Seine Verdienste, etwa um die werkimmanente Methode der Interpretation, werden vergessen. Immerhin veranstaltet die Stadt Zürich anläßlich seines hundertsten Geburtstages 2008 eine Ausstellung.

Der in Paris geborene George Steiner wird nicht in einer Staiger vergleichbaren Weise in die Defensive gedrängt. Das hängt nicht zuletzt mit seiner Herkunft zusammen. Der Oxforder Literaturwissenschaftler, jüdisch-österreichischer Abstammung, rückt ebenfalls den ästhetischen Rang der herausragenden Kulturschöpfer in den Vordergrund. Das schließe, wie er nicht müde wird zu betonen, den Respekt vor den Leistungen der Gegenwartskünstler nicht aus, wobei er als Beispiel nur bestimmte Namen, wie Paul Celan, nennt.

Kriterium ist für ihn vor allem die Verbindung berühmter Kunstwerke zum Primären, ihr Draht zum Göttlichen und Zeitlosen. Es sei das „Privileg des Ästhetischen (…) das Kontinuum zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit, zwischen Materie und Geist, zwischen dem Menschen und dem ‘anderen’ zu erleuchteter Gegenwart zu erwecken“. Dagegen grenzt er sich von der Flut der sekundären Deutungen und ungezählten Kommentarskommentare ab. Sie stellten ein wesentliches Charakteristikum der heutigen Literatur dar. „Real Presences“ heißt der Originaltitel von Steiners Polemik gegen alles Kleingeistige, Nachahmende, Unschöpferische und Austauschbare – gegen all das, das die großen Kreativen zu übertrumpfen vorgibt.

Botho Strauß sieht sich angesichts solcher bedeutenden Vorgänger als der sprichwörtliche Zwerg auf den Schultern von Riesen. 1991, zwei Jahre vor seinem famosen „Bocksgesang“-Artikel im Magazin Der Spiegel, verfaßt er das Nachwort zu Steiners deutscher Übersetzung „Von realer Gegenwart“. Emphatisch lobt der Theaterdramaturg den „Schneisenschlag“, der sich „gegen die philosophischen Journalisten, die Mitverfertiger einer Weltworld, die Realisten der Entropie und der überfüllten Leere, die Rhetoriker der Simulationen und des unendlichen ludibriums“ richte. Er verweist auf Übereinstimmungen mit der Traditionslinie, die von David Jones über Ezra Pound bis zu Thomas S. Eliot reicht. Selbst der allseits verhöhnten Figur des Reaktionärs gewinnt Strauß positive Seiten ab, indem der „Rückschrittler“ gegen die „Vergeßlichkeit in jeder Epoche“ kämpfe.

Die unlängst erschienene Neuauflage der Aufsatzsammlung „Der Aufstand gegen die sekundäre Welt“ enthält nicht nur das Bekenntnis zur künstlerischen „Realpräsenz“, sondern auch die anderen aufsehenerregenden Essays der Auflagen von 1999 und 2004 und einiges weitere Lesenswerte: den Beitrag über Rudolf Borchardt, die Dankesrede zum Georg-Büchner-Preis, die Laudationes über Peter Stein und Jutta Lampe, die Rede zum Lessing-Preis sowie Anmerkungen zu „Die Löwin“ von Konrad Weiß.

Zentral ist natürlich der längst legendäre „Anschwellende Bocksgesang“, der der fast verschwundenen Gestalt des Rechtsintellektuellen neue Konturen verleiht. Obwohl hier Strauß den „Rechten“ vom Neonazi in aller Schärfe abgrenzt und die Verbrechen des Nationalsozialismus außerhalb der Ordnung des Politischen stellt, ist das mediokre Mainstream-Feuilleton wegen der positiven Konnotation der Bezeichnung „rechts“ im Ausnahmezustand. Es gebärdet sich wochenlang furienhaft. Die „zerknirschten Gewissenswächter“ (Strauß), von denen sich vornehmlich der damalige Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, hervortut, artikulieren pflichtgemäß Betroffenheit. Ist „Kloake“ für Staiger noch ein Synonym für jene Schriften, die „Zeugnis eines pathologischen Dranges zur Selbsterniedrigung des Menschen“ (Günter Blöcker) seien, verwendet Strauß diese Metapher für einschlägige Sender des Privatfernsehens. Von den vielen scharfsinnigen Hinweisen über die Gegenwartskultur – gewiß in einer gewöhnungsbedürftigen Sprache vorgetragen – seien nur zwei erwähnt: Strauß mokiert sich über die im liberalen Gewand präsentierte Diffamierung von Eros, Kirche, Soldatentum, Tradition und Autorität. Unser politisches System sieht der erfolgreiche Bühnenautor als ein um sich selbst kreisendes, ja als „kybernetisches Modell“. Nach fast zwei Jahrzehnten müßte man ergänzen: Das System funktioniert unübertroffen gut. Politisches Handeln der Regierenden ist, insbesondere in europapolitischen Angelegenheiten, sogar alternativlos. Mit Blick auf den Islam hebt Strauß die Stärken von Kulturen hervor, für die der „Ökonomismus“ nicht das Maß aller Dinge sei.

In der Neuedition von 2012 fügt der Verfasser einige Aufsätze hinzu: Sachdienliches zu jüngst publizierten persönlichen Aufzeichnungen Oswald Spenglers, Hinweise zum 81. Band des Heideggerschen Œuvres, zu Gerhard Richters „Übermalte Fotos“, ja sogar Bemerkungen zur gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzkrise. Eine erneute (oder erstmalige) Lektüre der Texte ist Pflicht für jeden, der Deutschlands Kultur besser verstehen will!

 

Kulturkonservative Lektüren

George Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Mit einem Nachwort von Botho Strauß. Hanser Verlag, München 2010, kartoniert, 320 Seiten, 19,90 Euro

Botho Strauß: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Aufsätze. Hanser Verlag, München 2012, kartoniert, 176 Seiten, 17,90 Euro

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