© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  32/12 03. August 2012

Rechtsfreier Raum
Bundestag: Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts steht Deutschland ohne Wahlrecht da
Michael Martin

Deutschland hat derzeit kein gültiges Wahlrecht. Das Bundesverfassungsgericht hat in der vergangenen Woche die von der schwarz-gelben Koalition beschlossene Reform des Wahlrechts gekippt und zentrale Bestimmungen des Gesetzes für verfassungswidrig und damit unwirksam erklärt (Kommentar Seite 2).

Für die Bundesregierung ist dies eine schallende Ohrfeige. Denn bereits die zuvor geltende Regelung wurde 2008 von den Karlsruher Richtern teilweise kassiert. In der Folge hatte die schwarz-gelbe Koalition zwar mit allen Fraktionen gesprochen, am Ende aber im Alleingang unter anderem eine Neuregelung der Vergabe von sogenannten Überhangmandaten beschlossen. Die Opposition und rund 3.000 Bürger hatten daraufhin in Karlsruhe geklagt.

Entsprechend hämisch fielen nun die Reaktionen aus. Nach Meinung von SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier hat das Gericht der Kanzlerin die Grenzen aufgezeigt und klargestellt, daß zu viele Überhangmandate das Wahlergebnis verzerrten. „Diesen Grundsatz kann auch Frau Merkel nicht außer Kraft setzen. Sie hat das Wahlrecht für Machtpolitik zu mißbrauchen versucht.“ SPD-Chef Sigmar Gabriel twitterte, die Regierung habe versucht, „ein Wahlrecht zu ihren Gunsten durchzupauken“. Konkret hatten die Richter die Regelung beanstandet, nach der die Zahl der Mandate auf die einzelnen Bundesländer verteilt wird, sowie die Verwertung der Reststimmen. Zudem bemängelten sie, daß es für Überhangmandate weiterhin keinen Ausgleich für andere Parteien gebe.

Für den früheren Verfassungsrichter Ernst Gottfried Mahrenholz kommt das Urteil nicht überraschend. „Das war vorauszusehen. Beim Wahlrecht haben die Koalitionsparteien verfassungsrechtliche Bedenken der Opposition und der Wahlrechtsexperten unbegreiflich mißachtet“, sagte der frühere Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Focus Online. „Union und FDP sollten aufhören, ihr eigenes Süppchen zu kochen. Jetzt müssen alle Parteien gemeinsam am neuen Wahlrecht arbeiten.“

Die Kritik des Juristen kommt nicht überraschend. Normalerweise ist es gute Sitte, daß Änderungen am Wahlrecht einvernehmlich vorgenommen werden. CDU und FDP ließen sich extrem lange Zeit und versuchten dann einen Befreiungsschlag im Alleingang. Spätestens bis zur Bundestagswahl 2013 muß das Gesetz stehen – im Grunde schon früher, wenn die Wahlkreiskandidaten aufgestellt werden. Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle hat das Gesetz als „ernüchternd“ bezeichnet und hinzugefügt, die Verteilung der Sitze verstoße „in mehrfacher Hinsicht gegen den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit und das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit“.

Weil das Bundesverfassungsgericht bereits 2008 das damalige Wahlrecht für teilweise verfassungswidrig erklärt und innerhalb von drei Jahren eine Neuregelung verlangt hatte, machte es diesmal teilweise präzise Vorgaben für eine Neuregelung. Die Richter beanstandeten insbesondere den Effekt des sogenannten negativen Stimmgewichts. Demnach kann es dazu kommen, daß die Abgabe einer Stimme der jeweiligen Partei bei der Berechnung der Abgeordnetenzahl im Ergebnis schadet. Grund hierfür ist die Bildung von Sitzkontingenten in den einzelnen Bundesländern. Die Karlsruher Richter monierten zudem, daß der Regierungsvorschlag die Möglichkeit zahlreicher Überhangmandate schaffte. Solche Zusatzmandate entstehen, wenn die Kandidaten einer Partei mehr Wahlkreise direkt gewinnen, als es dem Stimmenanteil der Partei bei den Zweitstimmen entspricht. Diese Mandate kommen tendenziell den großen Parteien zugute – bei der Wahl 2009 gingen alle 24 an die Union.

Diese reagierte auffallend zurückhaltend und um Konsens bemüht. Fraktionsgeschäftsführer Michael Grosse-Brömer (CDU) bot der Opposition schnelle Gespräche an. Schon zuvor hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel verlauten lassen, sie nehme das Urteil mit Respekt zur Kenntnis. Das Wahlrecht liege aber „in der Hoheit des Parlaments“. Aber auch dies muß sich an die Verfassung halten.

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