© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  32/12 03. August 2012

In die Zange genommen
Einwanderung: Sozialverbände feiern die Anhebung der Unterstützungssätze für Asylbewerber als Erfolg
Michael Paulwitz

Die Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz erweist sich für Kommunen und Sozialkassen als finanzpolitischer Alptraum: Die Unterstützungssätze für Asylbewerber seien verfassungswidrig, weil sie gegen das „Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ verstießen, verkündete das Gericht Mitte Juli. Bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber setzten die Verfassungsrichter auch gleich um mehr als fünfzig Prozent erhöhte neue Sätze fest.

Das Verfassungsgericht orientiert das Existenzminimum an den Hartz-IV-Sätzen. Statt 220 Euro monatlich sollen Asylbewerber übergangsweise 336 Euro bekommen, davon mindestens 130 Euro (bisher 40) in bar statt in Sachleistungen und Gutscheinen. Bei 130.000 Bezugsberechtigten (Stand 2010) und 815 Millionen Euro jährlichem Aufwand für die öffentlichen Kassen macht das Mehrkosten von rund 130 Millionen Euro aus, rechnete der Deutsche Landkreistag vor und mahnte an, daß die Landkreise und kreisfreien Städte, die bisher schon 60 Prozent der jährlichen Kosten der Asylbewerberversorgung aufbrächten, weil die Kostenerstattung durch die Länder nicht ausreiche, auf diesen Mehrkosten nicht auch noch sitzenbleiben dürften.

Damit erschöpfte sich auch schon die Kritik der Betroffenen an einem Urteil, das von Begünstigten wie Abgestraften gleichermaßen mit Applaus begrüßt wurde. Nur einzelne Stimmen wie Unions-Fraktionsvize Günter Krings warnten vor steigenden Flüchtlingszahlen als Konsequenz des Urteils. Während die betroffenen Stadtkämmerer sogleich ihre eigenen Kostenrechnungen aufstellten – Frankfurt und Stuttgart rechnen mit je einer Million zusätzlichen Ausgaben, das Land Berlin mit neun Millionen –, freuten sich die zur Kasse gebetenen Sozialminister der Länder, egal ob sie CDU, SPD oder Grünen angehören, gleich reihenweise über die geschaffene „Klarheit“ – so die Diktion des Berliner CDU-Sozialsenators Mario Czaja – und reichten wie die grüne rheinland-pfälzische „Integrationsministerin“ Irene Alt die Rechnung gleich an die Bundesregierung weiter.

Die wiederum akzeptierte das Urteil ohne Murren und gelobte sofortige Umsetzung. Ihre bisherige sträfliche Untätigkeit versuchte ihr Prozeßvertreter mit dem Hinweis zu relativieren, sie sei mit allen Vorstößen zu einer – für den Steuerzahler möglicherweise günstigeren – Neuregelung der seit 1993 unveränderten Sätze regelmäßig am Widerstand der Länder gescheitert. Dem Vorsitzenden des Ersten Senats, Ferdinand Kirchhof, gab diese politische Blockade eine Steilvorlage. An Kirchhofs Urteilsbegründung erstaunt der polemische Unterton. Seinen Begründungssatz, die Menschenwürde sei „migrationspolitisch nicht zu relativieren“, verschärfte er noch in seinen mündlichen Ausführungen – eine Politik nach dem Motto „ein bißchen hungern lassen, dann gehen die schon“ könne „ja wohl nicht sein“. Von der Einwanderungslobby – von der katholischen und evangelischen Kirche, vorweg der Hildesheimer Bischof und Vorsitzende der „Migrationskommission“ der Deutschen Bischofskonferenz Norbert Trelle, und ihren mächtigen sozialindustriellen Komplexen Caritas und Diakonie über den „Pro Asyl“-Geschäftsführer Günter Burkhardt bis zu ihren publizistischen Verbündeten – erntete das Verfassungsgericht gerade dafür den größten Jubel.

Dabei hätte es gute Gründe für kritische Nachfragen an die Verfassungsrichter gegeben. Schon die Unterstellung, Asylbewerber müßten in Deutschland Hunger leiden und würden „menschenunwürdig“ behandelt, ist unsinnig angesichts Zehntausender Anträge jährlich – mit seit Jahren steigender Tendenz – von Menschen, die andere Zufluchtsalternativen nicht selten gezielt ausschlagen. Deutschland ist so längst der Industriestaat geworden, der auch in absoluten Zahlen mehr Flüchtlinge aufgenommen hat als jeder andere, die Vereinigten Staaten eingeschlossen.

Fragwürdig ist auch die Tabuisierung jeglicher Differenzierung zwischen langzeitarbeitslosen Mitgliedern der Solidargemeinschaft und vorübergehend aufgenommenen Asylbewerbern. Die angebliche „Menschenunwürdigkeit“ der bisherigen deutschen Sätze relativiert sich beim Blick zu den europäischen Nachbarn: In den Niederlanden entspricht die Unterstützung nur den bisherigen deutschen Sätzen, Frankreich, Großbritannien und Österreich beispielsweise zahlen deutlich weniger. Lehrreich auch der Blick in die Schweiz: Dort wurde just zur selben Zeit der Beschluß gefaßt, Asylbewerbern künftig nur noch die karge „Nothilfe“ zu gewähren, weil die bisher gezahlte Sozialhilfe aufgrund ihrer Höhe falsche Migrationsanreize setze. Interessiert beobachtet man in der Eidgenossenschaft, daß man in Deutschland gerade den umgekehrten Weg geht.

Daß der Prozeß von der Einwanderungslobby instrumentalisiert wurde, läßt schon das Alter der Kläger ahnen – ein minderjähriger irakischer Kurde und eine elfjährige, inzwischen eingebürgerte Nigerianerin. Prompt folgte auf die Urteilsverkündung eine Lawine weitergehender Forderungen: völlige Gleichstellung von Asylbewerbern und anderen Hilfeempfängern, Abschaffung von Residenzpflicht und der Unterbringung in Sammelunterkünften und Arbeitsrecht für Asylsuchende. Dieselben Forderungen trägt auch die EU vor, um das Asylrecht europaweit zum regulären Einwanderungsmechanismus zu harmonisieren. Mit dem Kompromiß, Arbeitsverbote für Asylbewerber auf neun Monate zu beschränken, hat Brüssel gerade wieder einen Etappensieg erreicht. Der hinhaltende Widerstand ist für Berlin, das von zwei Seiten – durch europäischen Richtliniendruck und durch die heimische Einwanderungslobby – in die Zange genommen wird, durch das Karlsruher Urteil nicht einfacher geworden.

Foto: Demonstration gegen das Asylbewerberleistungsgesetz in Karlsruhe: Jubel von der Einwanderungslobby

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