© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30-31/12 20. Juli / 27. Juli 2012

Verlorene Blicke
Zwei Berliner betreiben den größten Ansichtskartenversand Deutschlands
Heino Bosselmann

Jena, vor uns im lieblichen Tale / schrieb meine Mutter von einer Tour / auf einer Karte vom Ufer der Saale, / sie war in Kösen im Sommer zur Kur ...“ – So beginnt ein Gedicht, mit dem Gottfried Benn den alten Zauber der Ferne ausdrückt, der einen per Post erreichte, mit einer Ansichtskarte, kulturbildend über Jahrzehnte hinweg und sich selbst im Zeitalter der eiligen Mails, plappernden SMS und fixen Foto-Sharing-Apps ein liebenswert zähes Überleben bewahrend, vielleicht weil nur solche Karten eine unmittelbare Impression mit dem handschriftlichen Gruß zu einem Ereignis verdichten, das man heute, weil man es vielfach vermißt, „authentisch“ nennen würde: „Es war wohl ein Wort von hoher Warte, / ein Ausruf hatte die Hand geführt, / sie bat den Kellner um eine Karte, / so hatte die Landschaft sie berührt.“

Seit 2000 haben die Berliner Antiquitätenhändler Dusan Bartko und Ondre Reher im Internet eine außerordentlich klug gegliederte und hervorragend zu handhabende Seite eingerichtet, über die sie Ansichtskarten und andere Ephemera vertreiben. Einerseits nach Postleitzahlen geordnet, andererseits mit Hilfe eines sehr genauen Kataloges von Motiven findet man – alles!

Nicht nur Karten, sondern sämtliche papiernen Bagatellen, die eigentlich nur für den Tag Bestand haben, aber gerade deswegen die Zeiten auf dem Grund von Kisten und Schubladen überdauern: Straßenanschläge, Bekanntmachungen, alle Arten Bescheinigungen, Quittungen, die längst vergessenen Abziehbilder, Bierdeckel, Kofferaufkleber, Reklame- und Propagandamarken ebenso wie Ausweise, Urkunden, Lesezeichen, Kalender, dekorative Briefumschläge und Menükarten.

Bartko und Reher gründeten ihr Unternehmen 1994 in Halle/Saale und spezialisierten sich zunächst auf Möbel und Kleinantiquitäten. Dann entdeckten sie alte Ansichtskarten als Geschäftsfeld. „Durch viele Sammlerbörsen und Antikmärkte haben wir in diesem Bereich sehr viel Erfahrung gesammelt und Kontakte zu Sammlern aufgebaut. Inzwischen sind wir das umsatzstärkste Unternehmen im Bereich alte Ansichtskarten“, berichten die beiden Unternehmer stolz auf ihrer Netzseite. Schon nach vier Jahren hatten mehr als 20.000 Kunden ihren Onlineshop besucht.

Inzwischen residiert die Firma in Berlin-Mitte (Linienstraße 156, 10115 Berlin) und beschäftigt neben den beiden Gründern 14 weitere Mitarbeiter sowie über 30 studentische Hilfskräfte. Zum Bestand der Postkartenliebhaber gehören auch Exlibris und die regionale Vielfalt des Inflationsgeldes – eilig gedruckt, aus der Not entstanden, aber, wie um diesen tragischen Hintergrund zu kompensieren, mit künstlerischem Anspruch gestochen und im graphischen Ausdruck ästhetisch und motivisch ebenso reich wie die Welt der Ansichtskarten.

Alt-Bibliomanen werden gleich einwenden, daß es sich mit dieser bequemen Art der Orientierung in alten Papieren um die McDonaldisierung von Antiquitäten handelt, weil dem Kenner die Freude am spannenden Aufspüren und genüßlichen Recherchieren genommen und jedem eingeloggten Sammler der Erwerb interessanter Stücke ermöglicht ist; anderseits erschließt sich über die Netzseite ein sagenhaftes Spektrum längst verlorengegangener Blicke.

Man ist betroffen davon, was Heimat einmal war, was von ihr blieb und wie wenig doch an echtem ästhetischen Gewinn hinzukam, obwohl die Bautechnik, wenigstens im Großen und Bunten, viel mehr ermöglicht als etwa um 1900. Viel mehr wohl, aber tatsächlich Wertvolleres? Immer noch leben jene Architekten, die kalte Zweckbauten und neukitschige Shopping-Center projektieren, selbst am liebsten in Jugendstilvillen unter dichtem Laub. Möchte man sich Königsberg, Breslau, Danzig ansehen, muß man in der Menüleiste über die Kategorie „Ausland“ gehen, aber das mag am Ordnungsprinzip der Postleitzahlen liegen.

In seinem unaufdringlich eleganten Layout sind diese Seiten mehr als ein Marktplatz für Sammler, nämlich eine regional-, kultur- und alltagsgeschichtliche Fundgrube – immens ergiebig, vor allem sinnlich beeindruckend, da all diesen kleinen Zeugnissen spürbar eine Aura, ein historisches Flavour eignet. Warnung: Wer sich hineinbegibt, wird sich und andere wunderbar beschenken können.

www.ansichtskartenversand.com

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