© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30-31/12 20. Juli / 27. Juli 2012

Ein Rechtsbruch zur Staatserhaltung
Vor achtzig Jahren bemächtigte sich die Regierung unter Franz von Papen mit dem „Preußenschlag“ der Staatsgewalt im größten Land des Deutschen Reiches
Helmut Simon

Am Morgen des 20. Juli 1932 empfing Reichskanzler Franz von Papen eine Abordnung preußischer Landesminister, um ihnen die Absetzung ihres Ministerpräsidenten Braun und des Innenministers Severing bekanntzugeben. Er selbst übernehme die Dienstgeschäfte des Ministerpräsidenten. „Die übrigen Minister können im Amt bleiben.“

Die Minister der preußischen Regierung, die bereits etwas hatten läuten hören, aber handlungsschwach nichts zu ihrer Verteidigung unternommen hatten, waren vom „Preußenschlag“ wie betäubt. Innenminister Carl Severing erklärte trotzig, er weiche nur der Gewalt, blieb aber friedlich sitzen. Er hatte nur das Stichwort für den Erlaß der „Verordnung des Reichspräsidenten“ geliefert, die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Groß-Berlin und der Provinz Brandenburg wiederherzustellen. Pläne für einen bewaffneten Widerstand gab es nicht, denn nichts fürchtete die preußische Landesregierung mehr als einen voll entflammten Bürgerkrieg während eines Wahlkampfes. Traurige Höhepunkte hatten die beiden, dem Preußen-Erlaß vorangegangenen Sonntage geboten. Im schlesischen Ohlau lieferten sich SA und Reichsbanner eine Straßenschlacht, die von der Reichswehr beendet werden mußte. Es blieben 27 Tote und 181 Schwerverletzte auf der Strecke. Es folgte der „Altonaer Blutsonntag“ mit 19 Toten und 285 Verletzten. Die preußische Polizei war nach eigenen Angaben an die Grenze ihrer Möglichkeiten gestoßen. Der Vorwärts sprach von „Bürgerkrieg in Permanenz“.

Reichskanzler Papen, der das SA-Verbot seines Vorgängers Brüning aufgehoben hatte, unterstellte hohen preußischen Dienststellen „mangelnde innere Unabhängigkeit gegenüber den Kommunisten“, die zu „mangelnder Tatkraft, Planmäßigkeit und Zielbewußtheit bei der Bekämpfung der Kommunisten“ geführt habe. Um sich im Reichstag auch der Unterstützung der Nationalsozialisten zu versichern, warf Papen der Landesregierung die „politische und moralische Gleichsetzung“ der „staatsfeindlichen Kräfte des Kommunismus“ mit der „aufstrebenden Bewegung der NSDAP“ vor.

An einen Einsatz der starken Schutzpolizei gegen die Reichswehr dachte die Landesregierung nie, suchte aber Schutz beim Staatsgerichtshof in Leipzig. Sie war an ihrer mißlichen Lage auch nicht unschuldig. Nach dem Verlust der preußischen Machtbasis durch die Landtagswahlen vom 24. April 1932 rettete sich die Koalitionsregierung unter dem „‚roten König Otto“ Braun durch einen Geschäftsordnungstrick, um „nichts unversucht zu lassen, um Dilettanten und Verbrecher von der Regierung fernzuhalten“. Damit war der zur stärksten Fraktion aufgerückten NSDAP der Weg zur Macht versperrt worden, die aber das Parlament mit Agitationsanträgen überschüttete.

Angesichts der verfahrenen Lage im bedeutendsten Land des Reiches lag der Eingriff der Reichsregierung nahe. Bereits 1930 hatte Braun diese aufgefordert, angesichts der „entfesselten Leidenschaften und nackten Interessenvertretungen zu außergewöhnlichen Maßnahmen“ zu schreiten. Autoritative Lösungen, die zu einer Reichsvereinheitlichung führen sollten, waren im staatsrechtlichen Gespräch. „Die parlamentarisch-demokratische Regierungsform muß ein Volk und einen Staat in das Unglück hineinführen“, urteilte der ehemalige preußische Finanzminister und spätere erste Präsident des Bundesverfassungsgerichtes Hermann Hoep-ker-Aschoff. Die „Denkfigur Reichskommissar“ als Führer aus einer parlamentarischen Sackgasse war also auch bei liberalen und der Sozialdemokratie nahen Staatsrechtlern keine anstößige.

Verfassungsmäßig anstößig waren aber die weitergehenden Absichten Papens und Reichsinnenminister Wilhelm von Gayls. Denn während sie auf einen bewaffneten Widerstand der „depossidierten“ SPD eingestellt waren, rechneten sie nicht mit juristischem Widerstand, den sie ohnehin für aussichtslos hielten. Sie glaubten mit dem Preußenschlag die Vorstufe für eine fundamentale Reichsreform gezündet zu haben, die den konfliktreichen Dualismus von Reich und Preußen in eine höhere Einheit überführen sollte. Auch wollten sie sich die Befehlsgewalt über die preußische Schutzpolizei aneignen, um auf Reichsebene von einer Position der Stärke mit den Nationalsozialisten ins politische Geschäft kommen zu können. Der sofortige und heftige Widerstand der preußischen Regierung auf rechtlichem Terrain ließ Papen und von Gayl aber noch in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli einen Rückzieher machen, da der Versuch, über den Artikel 48 (Pflichtverletzung einer Landesregierung gegenüber dem Reich und Gefährdung der öffentlichen Sicherheit) zu einer neuen Verfassung zu kommen, eindeutig verfassungswidrig gewesen wäre.

Bundesdeutsche Politologen der ersten Nachkriegsjahre, die in der folgenlosen Tradition des nachholenden Widerstandes standen und nachträglich für einen Bürgerkrieg plädierten, sahen entsprechend im Preußenschlag eine vorauseilende Machtübergabe an die Nationalsozialisten: Von der Position der Gegenwart rückblickend aus gesehen, ist die zentrale Frage, ob das Reichskommissariat über Preußen der Machtergreifung der Nationalsozialisten gedient hat oder ihr zuwiderlief.

Kalkül, Taktik und Lavieren werden in Zeiten höchster politischer Anspannung situativ und für den Betrachter aus einem postpolitischen Äon nur unvollständig einsehbar. Hatte der NS-Parteijurist Hans Frank noch Heinrich Brünings Überlegungen, die Regierungsgewalt in Preußen in ein Reichsdirektorium zu überführen, als „verfassungsrechtlichen Wahnwitz“ bezeichnet, begrüßte er am 21. Juli die „Zertrümmerung der letzten Bastion des Marxismus“. Die Nationalsozialisten glaubten nun freie Hand im kommenden Reichstagswahlkampf zu haben.

Doch als Papen erklärte, er werde die Machtmittel gleichmäßig einsetzen, begannen sie laut Hans Zehrer, dem Herausgeber der in nationalen Kreisen einflußreichen Zeitschrift Die Tat, zu begreifen, daß ihnen die „größte Perle ihrer Propaganda aus der Krone gebrochen und der Weg zur Macht in Preußen versperrt“ worden war. Sie begannen einerseits mit der KPD eine destruktive Kampagne im Landtag, andererseits Koalitionsgespräche mit dem Zentrum. Papen parierte, indem er sich auf Hindenburgs westpreußischem Sitz Schloß Neudeck eine weitere Blankounterschrift besorgte, die es ihm erlauben würde, im Falle einer Koalition von Zentrum und NSDAP die Polizei in Preußen dem Reich zu unterstellen und bei einer Wiederholung einer solchen Koalition auf Reichsebene den preußischen Landtag aufzulösen.

Der intellektuell aufwendige Prozeß vor dem Reichsgericht in Leipzig, in dem auf beiden Seiten die Elite der deutschen Staatsrechtler miteinander focht, endete salomonisch: Der Reichsregierung wurde das Recht bestätigt, eine kommissarische Regierung einzusetzen, ihr wurde aber untersagt, die Einflußrechte der Länder gegenüber dem Reich anzutasten. Der bedeutende Staatsrechtler Walter Jellinek kommentierte, das Kind sei nicht geteilt worden, es sei ihm nur eine Locke abgeschnitten worden. Das Kind sei zum Reich gekommen, die Locke zur preußischen Regierung. Diese Einschätzung wurde auch von Reichs-innenminister von Gayl geteilt, der das Ziel, die Zusammenführung der Machtmittel von Preußen und dem Reich, als erfüllt ansah.

Der Vertreter der Zentrumsfraktion hingegen sprach von einem „Sieg des Rechts über die Macht“ und einer „moralischen Rehabilitierung“ der preußischen Staatsregierung.

Doch gab es auch Prozeßbeobachter, die das Kompromißurteil kritisierten. Der Staatsrechtler Johannes Heckel, Schöpfer des Begriffs „Verfassungslähmung“, erklärte rigoros, daß ein Parlament, das eine revolutionäre Partei zum staatsbestimmenden Faktor werden ließ, eine „Perversion“ seines staatsrechtlichen Charakters erfahren habe. Dem Staatsgerichtshof wäre der „Mißgriff einer Teilung der Staatsgewalt nicht zugestoßen“, wenn er begriffen hätte, daß der Stellung des Reichspräsidenten auch das Recht zukomme, eine von einem gelähmten Parlament unabhängige Regierung einzusetzen. Nach der Theorie der „hochpolitischen Akte“ Heinrich Triepels hätte der politische Streit erst gar nicht zu einem juristischen werden dürfen.

Mehr noch, es sei der Rechtsgedanken überspannt worden und biete das Bild eines „drohenden Zerfalls des Staates“. Selbst ein der SPD nahestehender Staatsrechtler wie Hans Kelsen befand, daß sich aus der Spaltung der Staatsgewalt eine „rechtlich wie politisch vollkommen unmögliche Situation“ ergebe. Der Vorwurf des „Staatsstreichs“, der in unserer bundesrepublikanischen Gegenwart nur allzu häufig noch erhoben wird, ist also weniger als unzutreffend, bezieht er sich auch noch auf den moderaten Kompromiß, den das Urteil des Staatsgerichtshofes darstellt. Die Ablehnung justizförmiger Politik war auch im sozialdemokratischen Lager ausgeprägt. Das Urteil habe mit „schmerzlicher Deutlichkeit vor Augen geführt“, so der ehemalige Regierungspräsident von Liegnitz, Hans Simons (SPD), daß in „Zeiten unzweifelhafter Staatsgefährdung eine allzu genaue Kontrolle der Exekutive durch die Judikative für das ganze Dasein des Volkes zum größten Unheil ausschlagen kann“.

Auf dieser gedanklichen Linie lagen auch der in den Vordergrund der Staatsrechtslehre gerückte Carl Schmitt und der starke Mann des Kabinetts von Papen, Wehrmachtsminister Kurt von Schleicher. Das Verfassungsrecht müsse soweit gebogen werden, daß ein Verfassungsbruch vermieden werden könne. Das Ziel des Verfassungsumbaus wäre ein Präsidialsystem gewesen, dem sich die Frage „Tod oder Selbstmord“ nicht mehr stellte. Das Regime der Präsidialkabinette Brüning, von Papen, von Schleicher war kein „Intermezzo mit feststehendem Ausgang“, sondern der Versuch, Hitler den Zugang zu verschließen. Dabei wurden Fehler gemacht.

Die Politik der Machtkonzentration, die zur Verhinderung der Machtübernahme einer verfassungsfeindlichen Partei hatte dienen sollen, gab dieser ein halbes Jahr später das Instrumentarium in die Hand, ihre Macht sehr schnell zu konsolidieren.

Foto: Reichskanzler Franz von Papen; Reichswehrsoldaten vor dem Preußischen Innenministerium in Berlin am 20. Juli 1932: Gescheiterte Verhinderung der Machtübernahme einer verfassungsfeindlichen Partei

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