© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30-31/12 20. Juli / 27. Juli 2012

Über den sanften Verlust der Freiheit
Die alten Irrtümer
Vera Lengsfeld

Sieht man die heutigen immer hektischer werdenden Bemühungen der Politiker, Deutschland kompatibel für ein Einheitseuropa zu machen, das der gescheiterten UdSSR gespenstisch ähnelt, wirkt es fast wie ein Traum, daß vor wenig mehr als 20 Jahren die Montagsdemonstrationen in Ostdeutschland der Beginn der erfolgreichsten Freiheitsbewegung der Welt waren. Die friedliche Revolution von 1989/90 hatte am Ende ein bis an die Zähne atomar bewaffnetes Regime zu Fall gebracht, das militärisch als unbesiegbar galt.

Die politische Klasse im kommunistischen Teil Europas hatte jahrzehntelang den Wunsch nach Freiheit, der jedem Menschen inne ist, ob er sich dessen bewußt ist oder nicht, mißachtet und unterdrückt. Dann brach sich dieser Freiheitswille Bahn und es stellte sich heraus, daß nichts ihn aufhalten konnte. Die politische Klasse Osteuropas zerfiel innerhalb kurzer Zeit. Zurück blieb die politische Klasse des Westens, die fassungslos zusah, wie ihre Kollegen im Osten weggefegt wurden. Dieser Schock bewirkte, daß sich die Begeisterung über die großartige Freiheitsrevolution in engen Grenzen hielt.

Nicht die Freiheit wurde zum Leitbegriff des politischen Handelns nach 1989, sondern Sicherheit und Gerechtigkeit. Mit dem Streben nach Sicherheit versuchte die politische Klasse ihre eigene Geschäftsgrundlage zu stabilisieren. Es begann ein beispielloser Ausbau des Wohlfahrtsstaates, der sehr bald, wie einst in der DDR, an der Substanz der Gesellschaft zu nagen begann. Inzwischen ist Deutschland verschuldet wie sonst nur zu Kriegszeiten. Mit der Verabschiedung des ESM, dem Europäischen Stabilitätsmechanismus, ist Deutschland am Ende der Sackgasse angelangt. Statt aus den Fehlern, die beim Aufbau Ost gemacht wurden, zu lernen, werden sie auf ganz Europa übertragen.

Das vereinte Europa ist endgültig zur Transferunion degeneriert. Statt einem Verbund freier Staaten, gleicht es immer mehr dem Zwangsgebilde der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Genau das scheinen die Politiker aber im Sinn zu haben, denn dieser Prozeß geht einher mit einem immer rigideren Abbau von Freiheitsrechten. Entscheidungen, die das Leben der Bürger komplett umwälzen, wie das Glühlampenverbot, der Euro-Stabilitätspakt, werden hinter dem Rücken der Bürger getroffen. In der Hoffnung, daß die Bürger nicht merken werden, welche Folgen diese Entscheidungen für sie haben.

Sicherheitshalber wird immer behauptet, der eingeschlagene Weg sei alternativlos. Im Namen von Sicherheit und Gerechtigkeit werden immer mehr ideologische Vorgaben und Praktiken der gescheiterten Kommunisten revitalisiert. Bürgerliche Politiker propagieren heutzutage die Notwendigkeit von Umverteilung, wie einst die Bolschewiki, ungeachtet des historischen Beweises, daß nach erfolgter Umverteilung es nicht allen besser geht, sondern eine allgemeine Verelendung beginnt.

Um die Schuldenpolitik fortsetzen zu können, wird immer offener auf staatsinterventionistische Praktiken gesetzt, auch wenn diese nachweislich die Probleme aufschieben, nicht lösen. Das erfolgreichste Wirtschaftsmodell der Menschheitsgeschichte, die Marktwirtschaft, wird immer rigoroser beschnitten. Daß die Gesellschaft noch gut funktioniert, verdankt sie übrigens der Kraft, die selbst eine rudimentäre Marktwirtschaft noch entfaltet.

Wir können uns nicht mal vorstellen, wie die Welt aussehen würde, wenn der Markt sich frei entfalten könnte. Aber freilich wäre dann eine Klasse überflüssig, die ihre Macht und Bedeutung fast ausschließlich daraus zieht, daß sie in großem Maßstab umverteilt. Inzwischen sind etwa 70 Prozent der Bevölkerung ganz oder teilweise von staatlichen Transferleistungen abhängig. Das ist das Geheimnis, warum das Ganze überhaupt funktioniert. Zu viele glauben, etwas zu verlieren, wenn sich am gegenwärtigen System etwas ändert. Sie sind sich nicht im klaren darüber, daß jeder am Ende nur das zurückbekommt, was er auf die eine oder andere Weise eingezahlt hat, abzüglich der enormen Umverteilungskosten.

Fragen muß man sich allerdings, wie lange eine Grundlage tragfähig ist, die aus einer produktiven Schicht gespeist wird, die nur aus 30 Prozent der Bevölkerung besteht. Ein Aspekt, den man nur nennen, nicht näher untersuchen kann, ist die Sprache, die benutzt wird, um die Verhältnisse so gut es geht zu verschleiern. Das Schnüren von Paketen und das Spannen von Schirmen, mit denen unsere Politiker pausenlos beschäftigt sind, soll Alltag und Fürsorglichkeit signalisieren. Auch die Zurückdrängung des antitotalitären Konsenses der Nachkriegszeit zugunsten eines Antifaschismus ist schon in der Wortwahl verlogen – in Deutschland gab es nie Faschismus, sondern Nationalsozialismus – und soll von der kritischen Auseinandersetzung mit dem Sozialismus ablenken.

Eine immer rigider werdende Political Correctness verhängt Denkverbote und engt Handlungsspielräume immer mehr ein. Das Ergebnis ist eine politische Klasse, die immer abgehobener agiert, mit Machterhalt statt mit Regieren beschäftigt ist und der immer offenere Verachtung entgegengebracht wird. Das spiegelt sich nicht zuletzt in der wachsenden Wahlenthaltung wider, die der entscheidende Trend der letzten Jahre ist. Die einzige Reaktion, die den Politikern dazu regelmäßig einfällt, ist die Einführung der Wahlpflicht. Kurzum: Die Gesellschaft ist unfreier, als sie es vor zwanzig Jahren war, und der Prozeß wird von der Politik weiter vorangetrieben. Möglich ist das, weil die Politiker und ihre willigen Helfer bestimmte historische Lektionen immer noch nicht lernen wollen.

Es ist ein fataler Irrtum, zu glauben, die Welt könne und müsse nach einer ideologischen Vorgabe neu geschaffen werden. Dieser Irrtum hat aber das fatale sozialistische Experiment überlebt und feiert mit dem „Klimaschutz“ fröhliche Urstände. Um das Klima zu retten, soll die Gesellschaft „umgebaut“ und der Mensch dementsprechend angepaßt werden. Seinen totalitären Gipfel hat diese Ideologie im sogenannten Ökologischen Fußabdruck des Menschen, nach dem der einzelne ein von der Politik festgelegtes Maß an „Ressourcenverbrauch“ nicht überschreiten darf. Konsequent zu Ende gedacht bedeutete das, daß ein Mensch, wenn er den ihm zugewiesenen Kohlenstoffdioxid-Ausstoß ausgeschöpft hat, zu atmen aufhören müßte. Wer das übertrieben findet, sei an die „Eugenik“ erinnert und an ihre fatalen Auswirkungen, nachdem sich Deutschland an die Spitze der eugenischen Bewegung gestellt hatte.

Das größte Problem bei der Etablierung von Diktaturen ist nicht die Machtgier der Diktatoren, sondern die Anpassungswilligkeit der Masse, die bereit ist, dem Zeitgeist in vorausseilendem Gehorsam zu dienen. Längst nicht alle Eugeniker waren Mitglied der NSDAP, aber ihre Forschungsergebnisse haben dazu beigetragen, die systematische Auslöschung „lebensunwerten Lebens“ zu ermöglichen. Die Eugenik hatte namhafte Anhänger auf der ganzen Welt wie Theodore Roosevelt, Woodrow Wilson, Winston Churchill, George Bernard Shaw oder Leland Stanford. US-amerikanische Eugeniker blickten neidisch nach Deutschland. Die Roosevelt-Stiftung finanzierte eugenische Forschungen der Nationalsozialisten bis 1939 – mit dem bekannten Ergebnis.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte niemand mehr Eugeniker gewesen sein. Massenhaft wurden erfolgreich Biographien umgeschrieben. Die politischen Exekutoren eugenischen Gedankenguts hatten die Folgen zu tragen. Aber eine Auseinandersetzung fand nicht statt. Deshalb lebt der eugenische Geist bis heute fort, zum Beispiel bei der Tötung von Föten, bei denen zukünftige Behinderungen diagnostiziert wurden. Die größte Schmach ist, daß es kaum Widerstand gegen die Eugenik gab – weder in Deutschland noch in Europa, noch in den USA, so wie es heute kaum Widerstand gegen die „Klimaschutzpolitik“ gibt.

Deutschland hat nicht gelernt, daß es ungesund ist, sich an die Spitze einer Zeitgeistbewegung zu setzen. Mit der „Energiewende“ glauben wir wieder, Weltmeister werden zu müssen. Deshalb ist die Freiheit in Deutschland besonders gefährdet. In letzter Zeit häufen sich die Anzeichen dafür. Innerhalb einer Woche erschienen zwei Namensartikel in deutschen Zeitungen, wo deutlich die Abkehr von der Demokratie gefordert wurde. In der Frankfurter Rundschau forderte der konservative Schriftsteller Martin Mosebach die Strafbarkeit von Blasphemie und verwies ausgerechnet auf die Fatwa muslimischer Religionsführer als nachahmenswertes Beispiel.

Daß dies zu einer Zeit geschah, wo sich mitten in Deutschland ein iranischer Sänger vor der Fatwa verstecken muß, macht Mosebachs Ausführungen noch bedenklicher. Insgesamt ist es ein Rückfall in voraufklärerische Positionen, die ausgerechnet von einer linken Zeitung verbreitet wurden. Im zweiten Namensartikel, diesmal im als bürgerlich geltenden Tagesspiegel, forderte der norwegische „Klimaberater“ Jørgen Randers die Ersetzung der demokratischen Institutionen durch einen „guten Diktator“. Demokratische Parlamente lösten langfristige Probleme nicht, weil sie gewählt werden müssen. Deshalb brauchten „wir“ einen „Diktator auf Zeit“, der notwendige Entscheidungen treffen könnte, deren Vorteil in der Zukunft liege und Kosten in der Gegenwart verursache.

Der Kapitalismus sei wegen seiner „Kurzfristigkeit“ nicht geeignet, das Klimaproblem zu lösen. Wenn die Parlamente die Märkte regulieren wollten, würden sie vom Wähler daran gehindert. Als vorbildliche Ausnahme nennt Randers Deutschland, das mit Atomausstieg und Energiewende die Weichen richtig gestellt habe. Die Langfristigkeit dieser Entscheidung sei aber zweifelhaft, deshalb brauche man einen „wohlmeinenden Diktator“.

In dieser Wortwahl versteckt sich die Fratze Stalins, der sich gern als „Chosjain“, Hausvater, titulieren ließ und der ebenfalls der Meinung war, daß die gegenwärtigen Generationen jegliches Opfer für das Glück der Zukünftigen zu bringen hätten. Randers, der selbst gern ein „wohlmeinender Diktator“ wäre und versichert, er würde fünf Jahre brauchen, um alle notwendigen Entscheidungen zu treffen, und dann zurücktreten, bemüht die Kommunistische Partei Chinas und die EU-Kommission als gelungene Beispiele. Erstere habe Entscheidungen zum Nutzen zukünftiger Generationen getroffen, deshalb sei es „nicht so schlimm“, wenn die Landrechte „einiger“ Menschen verletzt würden, um den Baufortschritt nicht zu bremsen.

Für den Drei-Schluchten-Staudamm wurden bekanntlich zwar Millionen Menschen zwangsumgesiedelt, doch spielt das für Randers keine Rolle. China habe das Klimaproblem gelöst. Und weil das so ist, kann es auch jeden Tag ein neues Kohlekraftwerk eröffnen, ohne daß dies den wohlmeinenden Klimaschützer stört. Dieser Artikel wirkt besonders gruselig, weil man weiß, daß der „Klimaberater“ der Kanzlerin, der Potsdamer Klimaforscher Hans Jo­achim Schellnhuber, ähnliche Positionen vertritt. Im Gegensatz zu Mosebach bekam Randers kaum Widerspruch. Für den „Klimaschutz“ scheinen die Deutschen gern die Demokratie aufgeben zu wollen.

 

Vera Lengsfeld, Jahrgang 1952, Diplom-Philosophin, war DDR-Bürgerrechtlerin und Bundestagsabgeordnete. Heute ist sie als Publizistin tätig. Ihre Tischrede bei der Hayek-Tagung 2012 wird hier mit freundlicher Genehmigung abgedruckt.

Foto: Rostiger Stacheldraht im Morgentau: Alle Weltverbesserungs-ideologien brachten bisher Unfreiheit – zumindest den Skeptikern

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