© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30-31/12 20. Juli / 27. Juli 2012

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Noch zur Beschneidung: Von der Regel, daß die Beschneidung in Europa als unüblich oder barbarisch angesehen wird, gibt es eine Ausnahme: das britische Königshaus. Offenbar kannte man hier seit der Zeit Königin Victorias die Übung, männliche Nachkommen an der Vorhaut zu beschneiden. Die Begründung dafür lautete, daß die britische Dynastie auf König David zurückgehe. Man muß in dieser eigenartigen Praxis wohl eine letzte Konsequenz jenes „Israelitismus“ sehen, der sich seit der frühen Neuzeit in Großbritannien ausprägte und die Briten als die wahren Israeliten betrachtete, mindestens aber den verschollenen „dreizehnten Stamm“ in ihnen sah. Mit Philosemitismus hatte das nicht notwendig zu tun, wenngleich Oliver Cromwell den Juden die Rückkehr nach England erlaubte, aus dem sie 1290 durch Eduard I. vertrieben worden waren. Eine radikale Minderheit der Puritaner wollte sogar das Kultgesetz komplett übernehmen. Das war zwar nicht durchzusetzen, aber in jedem Fall hat sich das Nationalbewußtsein Albions immer an den Mustern ausgerichtet, die im Alten Testament vorgegeben waren, angefangen bei der Idee der eigenen Auserwähltheit und endend bei dem Gedanken, daß das neue Zion nur in England errichtet werden könne. – Übrigens wurde Prince Charles auf Wunsch seiner Eltern durch einen Mohel beschnitten, einen eigens für diese Ritualhandlung ausgebildeten Rabbiner, während Prinzessin Diana die Beschneidung ihrer Söhne verweigerte.

Die Ausstellung der Berliner Akademie der Künste über die „Choreographie der Massen“ ist unbedingt sehenswert. Dabei geht es weniger um die Exponate oder die Erläuterungen, eher um die eindrucksvolle Filmpräsentation, die etwas zeitversetzt dieselben Szenen auf drei Projektionsflächen zeigt: angefangen bei einer Flugzeugparade der sowjetischen Luftwaffe zu Beginn der 1930er Jahre, gefolgt von Szenen aus dem Publikum eines Football-Spiels, Freiübungen auf dem Reichssportfeld, dasselbe irgendwo im kommunistischen Asien, eine Sequenz mit Fans aus dem „deutschen Sommermärchen“, Vorbereitung und Beginn des Auftritts einer Techno-Gruppe, Militärparaden und einen Fischschwarm. Letzterer irritiert zuerst, aber dann bemerkt man die Ähnlichkeit der koordinierten Bewegungen bei tierischer wie menschlicher Masse.

Bildungsbericht in loser Folge XXVI: In der Bremer Oberschule – so wird dort die Integrierte Gesamtschule genannt – wurden für die Klassen 5 bis 7 die Noten abgeschafft, unter den Arbeiten findet sich eine „Baustelle“, um dem Schüler deutlich zu machen, woran er noch „arbeiten“ sollte; positive Leistungen werden mit einem „Smiley“ attestiert. Der Unterricht in den Klassen muß auf mindestens drei verschiedenen Niveaus angeboten werden, genauso die Arbeiten, die dann auch auf drei verschiedenen Niveaus zu konzipieren und zu bewerten sind.

Die Feierlichkeiten aus Anlaß des 50. Jahrestags der deutsch-französischen „Aussöhnung“ haben kaum Interesse gefunden. Der Rest an gegenseitigem Wohlwollen beruht vor allem auf Desinteresse. Nun war die deutsche Aufmerksamkeit für Frankreich ohne Zweifel immer größer als umgekehrt. Aber es gibt Ausnahmen. In den französischen Eliten glaubte man jedenfalls immer, daß es notwendig sei, ein Auge auf den Nachbarn im Osten zu haben. Das Mißtrauen war dann nicht selten gepaart mit widerwilligem Respekt. Von de Gaulle, der den – an sich belanglosen – Elysée-Vertrag 1962 mit Adenauer unterzeichnete, wird berichtet, daß er noch am Ende des Zweiten Weltkriegs das Schlachtfeld von Stalingrad besuchte. Beim Anblick der Ruinen sagte er: „Welch ein großes Volk.“ Der Übersetzer gab die Worte auf russisch wieder. Die sowjetischen Funktionäre, die de Gaulle begleiteten, dankten höflich für die Anerkennung. Worauf de Gaulle nur erwiderte: „Ich meine die Deutschen.“

Die Berliner Massenausstellung beginnt mit zwei Zitaten. Das eine stammt von dem Architekten Etienne-Louis Boullée, der bekannt geworden ist durch seine utopischen Bauentwürfe für die gerade gegründete französische Republik; Boullée hatte das Problem durchaus erkannt, daß nach dem Wegfall der ständischen Ordnung die befreite Masse neu formiert werden mußte und sah in großen Inszenierungen eine Möglichkeit, die einzelnen zu erfassen und auf das Ganze auszurichten. Dagegen die Stellungnahme von Peter Slo-
terdijk, der die postmoderne Masse – nicht zuletzt durch die technische Entwicklung – in einen Zustand versetzt sieht, in dem sie nur noch fallweise und im Sinn kurzfristiger Trends eine Einheit bildet, jedenfalls kaum noch ein physisch erfahrbares Ganzes sein kann. Es ist zwar unstrittig, daß sich der Aggregatzustand der Masse verändert hat. Aber die Frage bleibt, ob sie nicht sofort wieder ihre klassische Gestalt annähme, wenn die Verhältnisse zum Tanzen kommen.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 3. August in der JF-Ausgabe 32/12.

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