© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30-31/12 20. Juli / 27. Juli 2012

Pankraz,
R. Spaemann und die Beschneidung

Die öffentliche Aufregung über das Urteil des Kölner Landgerichts zur Strafbarkeit der Beschneidung hat geradezu furchterregende Dimensionen angenommen. Frank Ulrich Montgomery, der Chef der Bundesärztekammer, hat inzwischen alle seine Mitglieder „wegen der unsicheren Rechtslage“ ernsthaft davor gewarnt, rituelle Beschneidungen vorzunehmen. Pinchas Goldschmidt, Präsident der europäischen Rabbiner, nannte das Urteil „den vielleicht gravierendsten Angriff auf jüdisches Leben in Europa seit dem Holocaust“.

Man ruft nach Sitzungen des Bundestages, man ruft nach dem Bundesverfassungsgericht. Körperverletzung oder grundgesetzlich garantiertes Recht auf Religionsfreiheit – so lautet die (in der Tat schwierige, heikle) Alternative. Althistoriker und Religionsphilosophen greifen tief in ihre Wissenskiste, um zu klären, um was für einen „mythologischen Überrest“ es sich bei der Zirkumzision handelt. War sie ursprünglich ein Initiationsritus, mit dem man Jünglinge in die Gemeinschaft der erwachsenen Männer einführte? Oder ist sie der Widerhall von uralten Opferriten, mit denen das Volk die Gnade Gottes erflehte?

Faktisch nichts läßt sich mehr definitiv klären, aber die Mehrheit der Gelehrten neigt zum Opferritus. Freilich ist auch, vor allem bei Marxisten, eine sich höchst „realistisch“ gebende Version unterwegs, wonach einst afrikanische und nahöstliche Nomadenstämme ihre Sklaven beschnitten hätten, um deren Sklavenstatus zu markieren und sie trotzdem fortpflanzungsfähig zu halten. Ursprünglich seien sämtliche Sklaven kastriert worden, doch als die Herren merkten, daß ein (kontrollierter) Sklavennachwuchs für ihre Geschäfte durchaus Vorteile abwerfen könnte, seien sie eben zur Beschneidung übergewechselt.

Pankraz neigt spontan der Auffassung zu, daß es sich bei der Beschneidung um ein „mythologisches Überbleibsel“ aus der Menschenop-ferzeit handelt. Er verweist auf das großartige Buch von Walter Burkert, „Homo Necans“ („Der tötende Mensch“), seinerzeit bei Walter de Gruyter in Berlin erschienen, das hier als ausgesprochenes Standardwerk gelten darf. Rituelle Tötungen von Menschen, Stammesgenossen oder Kriegsgefangenen, sind demnach schon aus prähistorischer Zeit bezeugt. Sie kamen in allen Kulturen vor, sollten den Zorn der Götter besänftigen und in heillosen Notlagen Rettung bringen.

In der Bibel spielt das Menschenopfer bekanntlich eine gewaltige, ja die entscheidende Rolle. Schließlich ist Jesus, der „eingeborene Sohn Gottes“, der sich im Einverständnis mit dem Vater um der Menschen willen zum Opfer darbringt, ein „Menschensohn“, sein Opfer ist ein Menschenopfer. Und schon im Alten Testament wirft das unerhörte Ereignis seine Schatten voraus, Es gibt die Geschichte von Jephta, der seine eigene Tochter opfert (und über den Lion Feuchtwanger einen, leider sehr törichten, Roman geschrieben hat). Es gibt an zentraler Stelle die Geschichte von der Beinahe-Opferung Isaaks durch seinen Vater Abraham.

Just hier jedoch, in der Opfergeschichte von Abraham und Isaak, geschieht auch der spektakuläre Umschwung. Abraham opfert Isaak gerade nicht, und Gott ist ausdrücklich damit einverstanden, gebietet es geradezu und schickt als Ersatzopfer einen Ziegenbock. Das Menschenopfer wurde, wie Burkert schreibt, „symbolisiert“, durch ein Symbol ersetzt, und in diese Richtung ging die kulturelle Entwicklung weiter. Auch das Tieropfer wurde in den meisten Religionen peu à peu durch weniger blutige, todeshaltige Riten symbolisiert; der Prozeß ist noch im Gange.

Einzig die Zirkumzision bei Juden und Moslems hat sich der Symbolisierung bisher erfolgreich widersetzt; dort wird weiter geschnitten, fließt weiter Blut. Einige hochgelehrte christliche Kommentatoren, zum Beispiel Robert Spaemann, sehen das interessanterweise eher positiv. Angesichts der rapide fortschreitenden Ausdünnung der Ritualität bei den Christen etwa, ihrer „aufgeklärten Modernisierung“ und Verharmlosung, sei das Beharren auf der Beschneidung fast so etwas wie Respekt heischende Glaubenstreue, Erinnerung an den existentiellen Ernstfall, der doch das Kernstück jeglicher Religiosität sei.

Aber ist das, muß man wohl fragen, nicht eine – trotz Blut und Körperverletzung – ziemlich hanebüchene Überschätzung der Beschneidung in ihrer gegenwärtigen Form? Mit religiöser Ritualität hat sie doch kaum noch etwas zu tun, ist eine bloße Mini-Angelegenheit in der chirurgischen Klinik. Und wie steht es mit ihrer mythisch-symbolischen Kraft? Pankraz kann eine solche Kraft beim besten Willen nicht sehen.

Natürlich waren die Juden einst Gefangene des Pharao in Ägypten und wurden dort vielleicht auch beschnitten, um als Staatssklaven kenntlich zu sein. Tatsächlich stammen die ersten Hieroglyphenbilder von rabiaten Beschneidungen überhaupt aus Ägypten. Aber kann dies denn für Juden Gegenstand erhebender Erinnerung sein? War der triumphale Auszug aus Ägypterland nicht der eigentliche, entscheidende, dauerhaft Geschichte machende Erinnerungspunkt, also die Befreiung von der Zwangsbeschneidung?

Was die Schriften überliefern, rechtfertigt das religiöse Wichtignehmen der Beschneidung über die Zeiten hinweg nicht. Die einschlägige Bibelstelle (1. Mose, 17, 10 bis 14) wird heute selbst von orthodoxen Gelehrten faktisch relativiert. Erst lange nach Abraham, urteilen sie, nämlich im Babylonischen Exil um etwa 600 v. Chr., hätten die Juden die Zirkumzision übernommen und ritualisiert. Es sei eine fremde „Errungenschaft“ gewesen, die die aus der Gefangenschaft heimkehrenden Eliten den zu Hause gebliebenen Samaritern beibrachten.

Ob sie damit ihrer Religion einen Gefallen getan haben, bleibe dahingestellt. Es ist ein Auffälligkeitsmerkmal, das es im Zeitalter der Säkularisation und der sexuellen Freizügigkeit und Spottlust schwer hat, noch von irgendwem ernst genommen zu werden und Respek zu erzeugen. Der Respekt, den Juden genießen, verdankt sich auf jeden Fall völlig anderen Umständen.

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