© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30-31/12 20. Juli / 27. Juli 2012

Die neue Führungsmacht
Studie zur Rolle Deutschlands in der Welt und in der EU: Trotz manchen Dünkels und wirtschaftlicher Eifersüchteleien wächst der Ruf nach Berliner Regiearbeit
Ralph Schoellhammer

Lange war die bundesdeutsche Außenpolitik auf Unauffälligkeit ausgerichtet, schwankte zwischen „Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung“ (Helga Haftendorn) und setzte vor allem auf die eher geräuschlose Einbindung in multilaterale Strukturen. Das hat sich im Zuge der Finanz- und Euro-Krise nun grundlegend geändert. Deutschland ist Führungsmacht in Europa – und dies nicht gegen den Willen einiger EU-Partner, sondern auf Drängen vieler.

In einer großangelegten Studie des European Policy Institutes Network (EPIN), einem Zusammenschluß europäischer Denkfabriken, hat sich gezeigt, daß in den letzten sechs Jahren der Ruf Deutschlands nicht nur in Europa, sondern auch im Rest der Welt zunehmend verbessert hat.

So ergibt die präsentierte Gallup-Befragung von Einwohnern in 130 Staaten, daß unter den verbliebenen Großmächten Deutschland die größte Zustimmung genießt. Es liegt knapp vor den USA, aber mit großem Abstand vor Großbritannien, China und Rußland. Bricht man diese Umfrageergebnisse auf die EU herunter, dann verdeutlicht sich dieses Ergebnis.

Im Vergleich zu den letzten Erhebungen im Jahr 2006 ist die Anerkennung der Führungsrolle Deutschlands vor allem in Ungarn (69 Prozent; +15 Prozent), Frankreich (59; +16), Spanien (58; +35) und in der Slowakei (53; +39) gestiegen. Erheblich gesunken ist sie lediglich in Griechenland (21; -17).

Auch wenn nicht bedingungslos allem zugestimmt wird, was aus Berlin kommt – im Vergleich mit London und Paris ist für den Großteil der Befragten Deutschland der Schlüssel zur Rettung Europas. Die Details der Studie, bei der Autoren aus Griechenland, Italien, Spanien, Portugal, Frankreich, Bulgarien und Rumänien, aus Österreich, Tschechien, Polen, Großbritannien, Dänemark sowie Finnland berichten, zeigen jedoch, daß es weniger eine neu entdeckte Liebe zu den Deutschen ist, als vielmehr Respekt vor der Offenheit, mit welcher Berlin die drückenden Probleme Europas anspricht.

Trotz der positiven Entwicklung vermerken die Autoren, daß Deutschland für seine Führungsstärke respektiert wird, aber so richtig „warm“ ist man in manchen Hauptstädten mit seinen Nachbarn immer noch nicht. Besonders Großbritannien, Italien und Frankreich grenzen sich bewußt vom Kurs Berlins bei der Euro-Rettung ab.

Man darf sich also von den Zahlen der Studie nicht blenden lassen, tatsächlich ist die Einstellung der EU-Staaten zu Deutschland wesentlich vielfältiger, als sich durch reine Prozentangaben vermuten ließe. Wie die Medienanalyse zu den einzelnen Ländern zeigt, setzten sich die meisten Länder im Zuge der Wirtschaftskrise intensiv mit ihrem Verhältnis zu Deutschland auseinander, und nicht alle sind vom Kurs Berlins begeistert.

Die negative Darstellung Deutschlands in Italien beispielsweise geht bereits so weit, daß der anerkannte Historiker Gian Enrico Rusconi von einer „schleichenden Entfremdung“ beider Länder spricht.

Ein genereller Trend, welcher sich in der Studie herauskristallisiert, ist die größere Zustimmung zur deutschen Politik in den neueren, osteuropäischen Mitgliedstaaten und die Skepsis im Westen. Besonders Bulgarien tut sich als Befürworter der deutschen Politik hervor: Laut Präsident Rosen Plevneliev wird die deutsche Führung Europa stärken, und Länder wie Griechenland sollten sich an der Fiskalstabilität von ärmeren Ländern wie Bulgarien ein Beispiel nehmen.

Auch wenn nicht alle Osteuropäer die bulgarische Euphorie teilen, eine wirkliche Alternative zur deutschen Führung sehen sie nicht. Die gewichtige Rolle des deutschen Marktes in Zentral- und Osteuropa schafft natürliche Verbündete wie die stärker werdende Achse Berlin-Warschau, wobei letzteres sich eine stärkere Einbindung in die deutsche Europapolitik wünscht, aber grundsätzlich den Ansatz des Nachbarlandes unterstützt. „Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit“ appellierte der polnische Außenminister Radosław Sikorski bereits im November 2011 an die Bundesregierung.

Ganz anders gestaltet sich die Situation westlich von Deutschland, wo entgegen aller positiven Umfragewerte die Skepsis überwiegt. Für Frankreich bleibt Deutschland ein Partner, den man respektiert, aber eben auch nur das – ein Partner. So erfreulich es ist, daß sowohl die französische Öffentlichkeit als auch die französische Politik das Nazi-Trauma überwunden zu haben scheinen, ein wenig mißtrauisch beäugt man den Nachbarn im Osten immer noch.

Ähnlich wie Spanien leiden die Franzosen unter einem Minderwertigkeitskomplex gegenüber Deutschland, welcher sich in der öffentlichen Debatte regelmäßig widerspiegelt. Oft zählt dann die eigentliche Politik weniger als die Angst, politisch von Deutschland an den Rand gedrängt zu werden.

Nirgends zeigt sich das so stark wie in Großbritannien, wo vor allem die Zeitungen des gesamten politischen Spektrums von einer deutschen „Kolonialpolitik“ im Süden Europas sprechen. Mehr noch als Frankreich scheinen die Briten an der Wahrnehmung zu leiden, zwei Weltkriege gewonnen, aber den Frieden verloren zu haben. Und auch das politische Taktieren sollte in diesem Fall nicht unterschätzt werden, denn gerade für die europaskeptischen Parteien ist das Bild eines übermächtigen Deutschland ein ideales Mittel, um ihre Ansichten unters Volk zu bringe.

Kleinere Länder wie Irland oder Portugal zeigen weniger Angst vor einer neuen deutschen Rolle in Europa, auch wenn diese nur zähneknirschend hingenommen wird. Beide Staaten haben sich jedoch auf ein Sparprogramm eingelassen und arbeiten, teilweise gegen den erheblichen Widerstand der eigenen Bevölkerung, an Strukturreformen nach dem Muster Deutschlands. Und auch Österreich, seit jeher von gemischten Gefühlen gegenüber dem großen Bruder im Norden geplagt, fühlt sich von Deutschland in Europa mit vertreten. Nicht ganz grundlos merkte Außenminister Michael Spindelegger kürzlich an, daß Angela Merkel den österreichischen Steuerzahler in Brüssel hervorragend vertrete.

Zusammenfassend gibt es zwei Möglichkeiten, die umfangreiche Studie zu lesen: Einerseits zeigt sie eine zunehmende Normalisierung zwischen Deutschland und dem Rest Europas. Eine andere Lesart könnte aber auch sein, daß Europa zu seinen älteren, historischen Gepflogenheiten zurückkehrt: Die größeren Staaten stehen im Wettstreit um die Vormachtstellung in Europa, während sich die kleineren Staaten an der politischen Großwetterlage orientieren. Diese begünstigt momentan Deutschland, weshalb es trotz aller Kritik in den lokalen Medien von der europäischen Bevölkerung respektiert, wenn auch nicht geliebt wird.

Respekt und Beliebtheit sind allerdings zwei unterschiedliche Währungen im Kampf um eine Reform des europäischen Projektes. Die deutsche Scheckbuchdiplomatie sicherte zwar eine erkaufte Zuneigung der europäischen Partner, aber es ist das kontinuierliche Beharren auf Strukturreformen, wie man sie selbst durchgeführt hat, welche auch den skeptischen Südeuropäern Deutschland als den besten (wenn auch ungeliebten) Krisenmanager erscheinen läßt. Mit Ausnahme Griechenlands hat die Zustimmung zur Politik Deutschlands sowohl in Italien, Portugal und Griechenland zwischen 2006 und 2011 kontinuierlich zugenommen – selbst in Irland stieg der Wert leicht an.

Deutschland kommt ebenfalls zugute, daß man bei den Strukturreformen mit gutem Beispiel vorangegangen ist. Besonders in Großbritannien erinnert Kanzlerin Merkel viele an die reformfreudige Premierministerin Margaret Thatcher, und es ist kein Zufall, daß sich die einst Thatcherkritische Presse wie der New Statesman nun ebenso intensiv auf die deutsche Kanzlerin einschießen.

Die neu entdeckte Bewunderung Deutschlands beschränkt sich jedoch nicht auf Europa, sondern hat mittlerweile auch die traditionell deutschland-kritischen konservativen Kreise in den USA erreicht. In den Seiten der National Review, dem wahrscheinlich wichtigsten und intellektuell anspruchsvollsten Organ der amerikanischen Rechten, wird ganz offen über das „Model Deutschland“ diskutiert, während zur gleichen Zeit renommierte Denkzirkel wie die Brookings Institution und das American Enterprise Institute versuchen, dem deutschen Erfolgsgeheimnis auf die Schliche zu kommen.

Während Ökonomen wie der Nobelpreisträger Paul Krugman weiterhin gegen die deutsche Sparsamkeit vom Leder ziehen, setzt sich bei einer wachsenden Anzahl von Menschen die Ansicht durch, daß der Westen zu lange über seine Verhältnisse gelebt hat. Titelte die Zeitschrift Newsweek noch im November 2009: „Warum wir jetzt alle Sozialisten sind“, und hatte der wirtschaftsliberale Economist noch vor wenigen Wochen ein sinkendes Schiff auf dem Cover, aus welchem eine Sprechblase verzweifelt ausruft: „Frau Merkel, können wir jetzt bitte die Motoren starten“, so beginnt sich das Klima nun zumindest teilweise zu ändern. Die Europaausgabe des Time Magazin hatte als Überschrift ihrer Hauptgeschichte „Warum alle es lieben, Angela Merkel zu hassen. Und warum alle damit falschliegen.“

Dies sieht auch der Vorsitzende der Studien- und Forschungseinrichtung Notre Europe, António Vitorino, in seinem Vorwort zur EPIN-Studie so, und schreibt gerade Deutschland eine Hauptrolle bei der Bewältigung der „Vertrauenskrise“ in der EU zu.

www.epin.org

Foto: Bundeskanzlerin Angela Merkel als Primus inter pares auf dem Nato-Gipfel am 20. Mai 2012 in Chicago: US-Präsident Barack Obama, Frankreichs Staatspräsident François Hollande, Nato-Generalsekretär Anders Rasmussen, der griechische Gesandte sowie Großbritanniens Premierminister David Cameron lassen sich die Richtung zeigen

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