© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30-31/12 20. Juli / 27. Juli 2012

„Wir sind das Volk!“
Tirol: Die traditionellen Schützenverbände sind nicht nur folkloristisches Zierat, sondern eine politische Macht – und der Garant für die Einheit des Landes
Reinhard Liesing

Wann und wo immer sie aufmarschieren in ihrer pittoresken Montur – sie sind eine Augenweide fürs Publikum. Im alpinen Tourismus würden ihre Farbtupfer fehlen, träten sie nicht in Kompanie- oder Bataillonsstärke auf, wenn es gilt, gelebte Tradition augen- und ohrenfällig werden zu lassen. Es kommt daher nicht von ungefähr, daß zwischen Oberbayern und Welschtirol beheimatete Schützenformationen an den meisten Urlaubsorten von Besuchern allzugerne als folkloristische Draufgabe auf ihren wohlverdienten Ferienaufenthalt empfunden werden.

Wer indes einmal einen Blick in eine Ortschronik oder gar in ein Geschichtsbuch wirft, dem wird sich die historische Dimension des Schützenwesens alsbald erschließen. Dies gilt im besonderen für jene Landstriche, die einst das alte Tirol ausmachten, das „Land im Gebirg’“, wie es oft in Urkunden bezeichnet wird. Dort geht die Existenz der Schützen auf das sogenannte Landlibell des Kaisers Maximilian I. (1459–1519) zurück.

Der „letzte Ritter“, wie man ihn auch nennt, erließ 1511 jenen urkundlich verbrieften Rechtsakt, in welchem er die Freiheiten der Tiroler Stände festlegte und damit zugleich das Wehrwesen und also die Organisation der Landesverteidigung durch Aufgebote städtischer und ländlicher Bewohner mitsamt einer Aufteilung der Mannschaftskontingente regelte. Das Landlibell legte fest, daß die Tiroler nicht verpflichtet waren, für einen Herrscher außerhalb der Landesgrenzen in den Krieg zu ziehen. Dafür sicherten die Stände zu, bei Feindeseinfall Tirol zu verteidigen.

Weithin bekannt wurde das Tiroler Schützenwesen vor allem durch die Abwehrkämpfe während der kriegerischen Einfälle der Bayern 1703 sowie der Franzosen (nebst ihrer bayerischen Verbündeten) in den Jahren 1796/97 und 1809. Die Bergisel-Schlachten unter dem aus dem Südtiroler Passeiertal stammenden Kommandanten und Volkshelden Andreas Hofer – plastisch und drastisch nachzuverfolgen am „Riesenrundgemälde“ im Tirol-Panorama, einem eigens 2010 errichteten Museum am gleichnamigen Berg nahe Innsbruck – trugen wesentlich dazu bei, daß der Mythos vom wehrhaften Bergvolk, das selbst Napoleon trotzte, in ganz Europa bekannt wurde.

Das Landlibell galt im Kern bis zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, und selbst während des Ersten Weltkriegs wurden Tiroler Standschützen stets nur zur Verteidigung der Heimat und eben nicht auf außertirolischen Kriegsschauplätzen eingesetzt. Daran und an „das Landlibell als Geburtsurkunde der Tiroler Schützen“ wurde im Vorjahr in Innsbruck im Beisein von Abordnungen und Schützenverbänden des historischen Tirol – des österreichischen Bundeslands Tirol sowie der Autonomen Provinzen Bozen-Südtirol und Trentino – feierlich erinnert.

Schützen fehlen nirgendwo bei einer größeren Festveranstaltung. Fast in jeder Gemeinde gibt es eine Schützenkompanie, die bei festlichen Anlässen „ausrückt“ und zumeist mit einer gemeinsamen Gewehrsalve den Festcharakter lautstark unterstreicht. Heutzutage haben diese Waffen tragenden Tiroler in ihren schmucken, regional unterschiedlichen Uniformen feindliche Truppen nicht mehr abzuwehren, wenngleich Degen und Karabiner zu ihrer „Standardausrüstung“ gehören. Der wehrhafte Geist ist ihnen indes nicht abhanden gekommen, wenn sie sich – im engeren wie im weiteren Sinne – um die „Heimat“ kümmern: Sie initiieren und beteiligen sich aktiv an Renovierungsaktionen für Bauwerke; dasselbe gilt für Reinigungsaktivitäten in der Natur, besonders dort, wo das Wegwerfgut des Massentourismus aus der Landschaft zu beseitigen ist.

Vor allem aber engagieren sie sich in der sozialen Fürsorge für ältere Mitbürger. Trotz äußerlicher Verschiedenheit, wie sie an Uniformen und Hüten, an Uniform- und Hutschmuck sowie an ihren Fahnen auszumachen ist, eint sie Tradition und Heimatverbundenheit, wie sie sich in den Grundsätzen des Schützenwesens manifestieren (dazu gehören „Treue zu Gott und dem Erbe der Väter“, „Schutz von Heimat und Vaterland“ sowie die Einheit des Landes).

Letzteres hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu heftigen Auseinandersetzungen geführt in und außerhalb der drei maßgeblichen Schützenverbände sowie auch zwischen ihnen.

Hieß der übergreifende Grundsatz in den neunziger Jahren „geistige und kulturelle Landeseinheit“, so ist in den letzten Jahren, weitgehend initiiert durch Diskussionen im Südtiroler Schützenbund, immer stärker auch die „politische Einheit des Landes“ in den Mittelpunkt gerückt. Und mit der nach einigen Querelen vollzogenen Neugründung eines gemeinsamen Verbandes (der ansonsten eigenständigen Schützenverbände Tirols, Südtirols und Welschtirols) im November vorigen Jahres ist die „Landeseinheit Tirols“ als politisches Ziel im neuen Statut fixiert. Verbandssitz ist Bozen, der Südtiroler Landeskommandant Elmar Thaler steht den darin vereinten 20.000 Schützen vor. Jedes Jahr übernimmt ein anderer Landeskommandant die Führung.

Bisher sichtbarster Ausdruck der Veränderung vom „unpolitischen“ – und von vielen abschätzig „heimattümelnd“ genannten – Charakter zu einem durchaus ernstzunehmenden politischen Faktor Tirols war der „Freiheitsmarsch“ der Schützen im Frühjahr in Bozen. Damit war erstmals auch die personifizierte gesamttirolische Verbandseinheit dokumentiert worden, indem der Südtiroler Landeskommandant Elmar Thaler, der Nordtiroler Fritz Tiefenthaler und der Welschtiroler Paolo Dalprà an der Spitze den farbenprächtigen Zug von Tausenden ihrer Mannen nebst Marketenderinnen und Sympathisanten in gleichem Schritt und Tritt quer durch die Stadt auf den Platz vor das Landhaus (Landtag) zur Abschlußkundgebung führten (JF 17/12).

Dort faßten sie zusammen, was die einzelnen Kompanien in griffige Parolen gekleidet auf Spruchbändern mit sich geführt hatten und was Ziel dieses demonstrativen, aber gänzlich unmartialisch verlaufenen Aufmarschs sein sollte: Der „Mut zum Bekenntnis und zur Tat“ gipfelte in dem wider Italien gerichteten Slogan „Unser Staat ist das nicht“, respektive im Verlangen: „Schluß mit der italienischen Verwaltung“.

In Anlehnung an den November 1989 in der damaligen DDR hieß es auch auf rotweißen Spruchbändern, die der Tiroler Adler zierte: „Wir sind das Volk“. Womit zugleich das Verlangen nach Wiedervereinigung des seit 1918 geteilten Tirols Ausdruck fand. All das verdichtete sich in den beiden markanten Parolen von der „Ausübung des Selbstbestimmungsrechts“ und der „Verabschiedung aus Italien“, also dem „Los von Rom“.

Es fehlte auch nicht an Schelten für „Politiker, die der Landeseinheit im Wege stehen“. Die Schützen wissen, daß sie mit derartigen Aktivitäten politisch auf Ablehnung stoßen: nicht allein in Rom (zur Gänze) sowie (weithin) in der politischen Klasse Wiens und Innsbrucks, sondern vor allem bei der Südtiroler Volkspartei (SVP). Zwischen der 1945 etablierten und seitdem absolut dominanten politischen Kraft im Lande und dem Südtiroler (wenn nicht gar dem Gesamttiroler) Schützenbund ist der Bruch unübersehbar.

 

Südtirol

10. September 1919

Im Diktat von St. Germain wird Italien der Süden Tirols zugesprochen. Nach der Machtübernahme der Faschisten 1922 setzt eine aggressive Italienisierung ein.

21. Oktober 1939

Hitler und Mussolini schließen das Optionsabkommen: Südtiroler müssen sich entweder für Deutschland entscheiden und ihre Heimat verlassen („Optanten“) oder aber unter Preisgabe ihrer Sprache und Kultur in der Heimat bleiben („Dableiber“).

11./12. Juni 1961

Aktivisten des „Befreiungsausschusses Südtirol“ (BAS) sprengen in der Herz-Jesu-Nacht als Fanal gegen die italienische Fremdherrschaft etwa vierzig Hochspannungsmasten.

20. Januar 1972

Das Autonomiestatut zugunsten von mehr Befugnissen für die mehrheitlich deutsche Provinz Bozen tritt in Kraft.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen