© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30-31/12 20. Juli / 27. Juli 2012

Wohl ist die Welt so groß und weit
Das allerschönste Stück davon / Ist doch die Heimat mein: Das deutsche Sehnsuchtsland Südtirol ist von landschaftlich und kulturell reizvoller Anziehungskraft – Begegnungen mit Andreas Hofer und Kaiserin „Sissi“
Hinrich Rohbohm

Das kleine Mädchen auf dem Sitz gegenüber in der italienischen Regionalbahn hat es zuerst bemerkt. „Mama, sind wir jetzt wieder in Deutschland?“ fragt sie ihre Mutter. Sie hat registriert: Bäume und Felder sind seit der Fahrt von Verona grüner geworden. Mächtige Berge kündigen die Alpen an. Erste Wolken bedecken den blauen Himmel. Immer häufiger wechselt die Landschaft nun zwischen Apfel- und Weinplantagen. Vertraute Worte klingen durch das Ansagemikrofon des Zugpersonals. Die nächsten Orte werden auch auf deutsch angekündigt, nachdem zuvor Trient noch ausschließlich als das italienische Trento bezeichnet wurde.

Die Mutter schmunzelt. „Du kannst manchmal schwierige Fragen stellen“, entgegnet sie ihrer Tochter, um sie anschließend darüber aufzuklären, daß sie jetzt in Südtirol angekommen sind und die Region heute zwar offiziell zu Italien gehört, die Bevölkerung aber überwiegend deutschsprachig ist.

Salorno heißt jetzt auch Salurn, Magre-Cortaccia Margreid Kurtatsch, Egna-Termeno Neumarkt-Tramin, Oral jetzt Auer, Branzolo auch Branzoll und Laives wird als Laifers bezeichnet, ehe der Zug in Bozen eintrifft, der größten, aber heute zugleich auch am wenigsten deutschen Stadt Süd-Tirols, in der die faschistische Assimilierungspolitik des Italiens der zwanziger und dreißiger Jahre deutliche Spuren hinterlassen hat. So sprechen in der 100.000 Einwohner zählenden Alpenmetropole heute nur noch etwa ein Viertel deutsch.

Nur wenige Bahnstationen später ist das Gegenteil der Fall. In den Orten Gargazon, Lana und Terlan sind zwischen 80 und 90 Prozent der Einwohner deutschsprachig. Die Dörfer sind besonders im Frühjahr einen Besuch wert, wenn die vom Apfelanbau geprägte Gegend ihre Blütenpracht entfaltet. Allein aus Lana kommen zehn Prozent der gesamten Apfelernte Südtirols. Terlan ist darüber hinaus aufgrund seines Weines bekannt, der hier schon seit 2000 Jahren angebaut wird.

Unweit entfernt befindet sich das bereits im achten Jahrhundert errichtete Schloß Sigmundskron, das heute als ein Symbol der Autonomiebestrebungen Südtirols gilt. Unter der Führung des langjährigen Landeshauptmanns Silvius Magnago gab es hier 1957 die größte Demonstration, die je in Südtirol stattgefunden hatte. 30.000 Menschen hatten sich damals in der Burganlage versammelt, um mit der Parole „Los von Trient“ die Freiheit für Südtirol einzufordern. Unter anderem ist in der Festungsanlage ein Bergmuseum des populären Bergsteigers Reinhold Messner untergebracht.

Die Bahn nähert sich ihrer Endstation: Meran. Mit 40.000 Einwohnern zweitgrößte Stadt Südtirols und ehemalige Landeshauptstadt, die aufgrund ihres mediterranen Klimas als Kurort zu internationaler Bekanntheit gelangte. Schon vom Bahnhof blickt Südtirols größter Prominenter herüber: Freiheitskämpfer Andreas Hofer, der als Denkmal auf einem Sockel mit der Inschrift „Für Kaiser, Gott und Vaterland“ thront. Dem Anführer des Tiroler Aufstands gegen die Bayern und Franzosen von 1809 ist an seinem Denkmal auch gleich noch eine Straße gewidmet.

Sein Geburtshaus befindet sich 50 Busfahrminuten von Meran entfernt, etwas außerhalb des 3.500-Seelen-Ortes St. Leonhard. Es ist der heutige Gasthof „Zum Sandwirt“, dessen Stallungen vor zehn Jahren zum Passeier-Museum umgebaut wurden und in dem sich ein eigener Abschnitt ausschließlich dem Leben Andreas Hofers widmet. Der Gang durch das Museum endet schon kurz nach dem Eintritt. Eine weiße Wand versperrt den Weg. Das Licht geht aus. Über die Wand flimmert ein Film über das Leben des Volkshelden. Wie er aufwuchs, mit dem Herz-Jesu-Gedanken fest verwurzelt. Wie sein Vater in das gelobte Land nach Jerusalem pilgerte. Wie er aufgrund einer Kartenwette zu seinem legendären Bart kam. Wie er 1809 in den Schlachten am Bergisel von Innsbruck und am Küchelberg bei Meran zunächst erfolgreich gegen die Franzosen kämpfte. Und wie er nach dem Friedensvertrag Österreichs mit Napoleon voller Zweifel war, ob er aufgeben oder weiterkämpfen sollte.

Die Tiroler redeten auf ihn ein: „Anderl, wir müssen aufgeben. Hör’ nicht auf die Hitzköpfe, wenn wir weiterkämpfen, bringen wir die Franzosen nur noch mehr gegen uns auf.“ – „Anderl, wenn du jetzt aufgibst, dann hast du uns verraten, dann bist du der erste, den wir aufhängen“, drohen ihm die Befürworter des Weiterkämpfens. Hofer entscheidet sich trotz aussichtsloser Lage für das Weiterkämpfen, wird zum Volkshelden. Nach einer vernichtenden Niederlage ist es schließlich der Landwirt Franz Raffl, der Hofer für 1.500 Gulden an die Franzosen verrät.

Er wird zur Hinrichtung ins italienische Mantua gebracht. Nachdem ihn das Exekutionskommando bei der ersten Salve nur verletzt, soll Hofer seinen legendärsten Satz gesagt haben: „Ach, wie schießt ihr schlecht.“ Ein Satz, der sich heute in der letzten Strophe der Tiroler Landeshymne wiederfindet, dessen Melodie am Museumsausgang noch einmal erklingt. „Nun, so trefft mich recht! Gebt Feuer! Ach, wie schießt ihr schlecht! Ade, mein Land Tirol! Ade, mein Land Tirol!“ heißt es dort.

Der Film ist zu Ende, das Licht geht wieder an. Wie ein Theatervorhang öffnet sich plötzlich die weiße Filmwand, gibt den Eingang ins Museumsinnere frei. Andreas- Hofer-Statuen und -Gemälde kommen zum Vorschein. Die Original-Tür seines Geburtshauses ist ausgestellt. Waffen, mit denen während der Schlachten um Tirol gekämpft wurde sind ebenso zu sehen wie Zitate aus den Schlachten von 1809. Etwa das des Marschalls Lefebvre, der an Napoleon schrieb: „Diese Wilden stürmen mit zornigem Geschrei ins Inntal herab, das Kreuz voran mit ihren Priestern so wütend wie Tiger.“

Ganz und gar nicht wütend war hingegen eine andere Prominente, wenn sie die Stadt Meran besuchte: Österreichs Kaiserin Elisabeth, Gemahlin von Franz-Joseph I., auch Sissi genannt, hielt sich öfter zur Erholung in dem Kurort auf und trug dadurch maßgeblich zu dessen Weiterentwicklung und Bekanntheit bei. Meran wurde zu einem Treffpunkt des europäischen Hochadels. Von der Pracht dieser Zeit zeugt neben zahlreichen Villen und Herrschaftshäusern aus dem 19. Jahrhundert sowie zahlreichen Alleen das 1874 im Jugendstil errichtete Kurhaus, dessen mächtiger Kuppelbau ein regelrechter Blickfang ist. Und am Sandplatz wurde im Jahre 1903 zum Gedenken an die Kaiserin eine „Sissi“-Marmorstatue aufgestellt.

„Wahnsinn, man fühlt sich hier wirklich wie zu Kaisers Zeiten“, schwärmt ein junges Pärchen aus Deutschland. Besonders die Passerpromenade sowie die Sommer- und Winterpromenade seien mit ihren farbenfrohen Blumenbeeten und der exotischen Pflanzenvielfalt „der reinste Augenschmaus“, schwärmt eine Studentin aus Hanau. Sie hatte eigentlich nur zwei Nächte bleiben wollen. „Aber die tollen Wanderwege haben es mir einfach angetan.“ Und daß sie sich dazu auch noch mit fast jedem auf deutsch unterhalten könne, gestalte den Aufenthalt für die der italienischen Sprache nicht mächtigen Frau noch angenehmer.

Die Unterteilung der Wege in Sommer- und Winterpromenade hat übrigens seinen Grund. Der Winterpromenadenweg beinhaltet viele sonnige Abschnitte. Ideal, um sich beim Spaziergang in den kalten Tagen auf dem windgeschützten Weg aufzuwärmen. Die Sommerpromenade ist durch hohe Bäume geprägt, die in heißer Jahreszeit für Schatten und Abkühlung sorgen. Sie ist zudem Bestandteil des sogenannten „Sissi“-Weges, den die Kaiserin einst beschritt, um zum Schloß Trauttmansdorff zu gelangen, in dem sie ihre Kuraufenthalte verbrachte.

Das sich am östlichen Stadtrand von Meran inmitten eines sehenswerten Botanischen Gartens gelegene Anwesen war nach dem Ersten Weltkrieg von der faschistischen italienischen Regierung konfisziert worden. Während des Zweiten Weltkriegs zwischenzeitlich von der Wehrmacht genutzt, ging das Anwesen 1977 an die Südtiroler Landesverwaltung. Seit 1990 ist ein Tourismusmuseum darin untergebracht, in dem die Geschichte des Südtiroler Fremdenverkehrs dargestellt wird.

Die Winterpromenade führt den Wanderer aus Meran heraus ins Dorf Tirol. Hier befindet sich das Schloß Tirol, einstige Stammburg der Grafen von Tirol und bis zum 15. Jahrhundert Residenz der Landesfürsten. In dem oft als „Wiege des Landes Tirol“ bezeichneten Schloß ist heute das Landesmuseum beheimatet.

Zu Beginn des Weges laden Bänke in direkter Nähe zur Passer, eines Nebenflusses zur Etsch, zum Verweilen ein. Frische Luftzüge steigen vom Gewässer herauf und sorgen bei Sommerhitze für willkommene Abkühlung, während das unentwegt geräuschvolle Rauschen des schnellfließenden Flusses ein Gefühl von Naturverbundenheit vermittelt.

Über die Winterpromenade geht es langsam bergauf, vorbei am sehenswerten Steinernen Steg, über den man auf die andere Seite des Flusses zur Sommerpromenade gelangt. Weiter geradeaus geht der Weg in die Gilfpromenade über. Der Fluß wird reißender, die Luft feuchter. Starker Farnbewuchs läßt Regenwaldatmosphäre aufkommen. Über terrassenförmige Pfade geht es nach oben, hinauf zum Tappeinerweg, der zwischen Palmen und Tannen hindurch einen atemberaubenden Blick über die Stadt erlaubt. Die Strecke wird mit zunehmendem Verlauf steiler. Apfelbäume, Wiesen und Weinreben lösen die exotische Pflanzenwelt als Landschaft ab. Nach einer guten Stunde Fußmarsch ist schließlich das Dorf Tirol erreicht.

„Anstrengend ist es, aber schön“, ächzt ein Rentner aus Sachsen, der gemeinsam mit seiner Frau diese Wanderroute gewählt hat. Seit vier Jahren kommt das Paar regelmäßig nach Meran. „Südtirol, das ist für uns so etwas wie das mediterrane Deutschland“, erzählt er. Seine Frau und er haben im Laufe der Jahre engere Kontakte zur einheimischen Bevölkerung aufgebaut. Und sind überzeugt: „Die wollen natürlich schon gerne ein vereintes Tirol, aber solange es wirtschaftlich vorangeht, ist man mit dem bisherigen Autonomiestatus zufrieden. Und durch die EU sind die Grenzen ja ohnehin nur noch auf dem Papier da.“

Meraner Gastronomen sind dagegen vor allem daran interessiert, daß die Gästezahlen weiter steigen. „Natürlich wäre ein vereintes Tirol schön. Aber ich glaube nicht, daß ich das noch erlebe“, meint einer von ihnen, der ebenfalls davon überzeugt ist, daß durch die weggefallenen Grenzen Tirol „praktisch schon kein geteiltes Land mehr“ sei, auch wenn es sich formell anders verhalte. „Aber wenn ich sehe, was uns möglicherweise durch die Schuldenprobleme Italiens noch an harten Einschnitten droht, dann wünschte ich mir schon, daß wir wieder zu Österreich gehören“, verrät er.

Die Rückreise nach Deutschland erfordert jedoch manches Mal Geduld. Der EuroCity hängt am Brenner fest. Baustelle. Und die italienische Bahn streikt. Wieder mal. Würde er heute noch leben hätte Andreas Hofer dazu wohl gesagt: „Nun, so fahrt mich recht! Gebt Gas! Ach, wie fahrt ihr schlecht! Ade, mein Land Tirol! Ade, mein Land Tirol!“

Fotos: Denkmal in Meran für Österreichs Kaiserin Elisabeth, genannt„Sissi“; Denkmal für Andreas Hofer; Geburtshaus Andreas Hofers „Sandwirt“; Kurhaus von Meran; Andreas-Hofer-Figur im Museum Passeier St. Leonhard; Winterpromenade in Meran; Schloß Trauttmansdorff mit dem Botanischen Garten am östlichen Stadtrand von Meran; Weg im Botanischen Garten von Meran; Das Waltherdenkmal von Heinrich Natter in Bozen stellt den Lyriker Walther von der Vogelweide (um 1170–um1230) dar, der vermutlich aus Südtirol stammte

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