© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30-31/12 20. Juli / 27. Juli 2012

„Daß man nicht mehr weg will“
Was ist Heimat? Und wo ist sie zu finden? Peter Steinbach befuhr als Seemann die Meere, später schuf er mit seinen Drehbüchern für Filmerfolge wie „Herbstmilch“ oder „Heimat“ den Neuen Heimatfilm.
Moritz Schwarz

Herr Steinbach, wir sind Reiseweltmeister, fühlen offenbar eine starke Sehnsucht nach fremden Orten: Haben wir Deutsche so wenig für Heimat übrig oder kompensiert unsere Fernsucht vielleicht unser mangelndes Heimatgefühl?

Steinbach: Ich kann nur für mich selbst antworten. Mit „die Deutschen“ meine ich also mich. Als alter Seemann, der ich in meiner Jugend war, spüre ich noch heute die Lust, übers Wasser zu fahren. War es doch immer die Verheißung einer unbekannten Welt hinter dem Horizont. Jeder Zwang der Konventionen des Lebens fiel von mir ab. Ich gehörte dem stillen und dem tosenden Meer, dem angenehmen Himmel und hatte die Welt vor mir. Damals war ich jung, und mein Empfinden war eben so. Und doch standen mir manchmal die Haare zu Berge vor Heimweh. Den heutigen Deutschen wird es anders gehen, wenn sie mit nahezu Schallgeschwindigkeit über Länder und Meere fliegen, um in kürzester Zeit ans Ziel zu kommen. Goethe reiste per pedes oder mit der Kutsche und brauchte Wochen, bis er in Rom das Kolosseum sah – was für ein Lebensgefühl!

Tatsächlich machen die Deutschen jedoch am häufigsten Urlaub im eigenen Land.

Steinbach: Die Gründe werden eher sein: Da, wo es billig ist und wo man meine Sprache spricht, da ist es angenehm – besonders in Krisenzeiten. Außerdem wage ich zu behaupten, daß die meisten Menschen von heute nicht wissen, was im Teutoburger Wald in fernen Zeiten geschah oder auf der Wartburg, bis auf den Tintenfleck.

Sie glauben nicht an ein echtes Heimatgefühl der heutigen Deutschen?

Steinbach: Wer hat schon wirklich Sehnsucht nach dem Beethovenhaus oder dem Walsroder Weltvogelpark – ebenso übrigens wie nach einem Spaziergang an den Gleisanlagen vor der Rampe von Auschwitz? Das wird doch „abgehakt“, weil es sich kulturpolitisch korrekt so gehört. Möglicherweise ist das ja normal. Allerdings bin ich heute empört darüber, wie man mit dem Erinnern umgeht, es verklärt, auf die verlogene Art des üblichen Advertisements, die Heimat prostituiert, ihre wunderbare und schreckliche Poesie auslöscht – so wie es mit allem geschieht und nachgerade in allen Lebensbereichen zu finden ist. Mir scheint, Heimat ist zur kommerziellen und politischen Verfügungsmasse herabgekommen. Man braucht sie heute noch für die Sudetendeutschen und diskreditiert sie über die Preußen-Diskussion.

Was bitte ist denn dann echte Heimat?

Steinbach: Tja, da bin ich hin und her gerissen. Einerseits: „Den Himmel zu pflanzen, die Erde zu gründen“, da wo das geschieht ist Heimat, und das kann überall sein. Andererseits ist Heimat auch die Zeit und die Stätte der frühen Jugend. Von Anfang an und bis zum Zeitpunkt, da das Kind erwachsen wird, um dann der Erwachsenenwelt in die Hände zu fallen. Das kann zu jeder Zeit und an jedem Ort sein.

Wie war das bei Ihnen?

Steinbach: 1938 in Leipzig geboren, die längste Zeit der frühen Jugend im Krieg aufgewachsen, lebte ich gewiß nicht im Pfefferkuchenhaus. Aber es war die schönste Zeit meines Lebens inmitten all des Ungemachs und der Aufregung. Noch heute träume ich mich in die Gemütlichkeit der Kellernächte hinein, wissend, daß um mich die Stadt in Flammen aufging. Ich erinnere mich noch eines Nachbarjungen, der mir einmal sagte, nichts sei mehr los im deutschen Himmel, und die Russen könnten noch nicht einmal radfahren. Das war ein Jahr nach dem Krieg, und es war noch immer Heimat um uns, trotz Hunger und verlorener Mitmenschen.

Ihr Roman „Heute für Geld und morgen umsonst“ schildert eine Kindheit im letzten Kriegsjahr in Leipzig – Ihre Heimatgeschichte?

Steinbach: Ein fiktiver Roman und dennoch, ja, es ist meine Heimatgeschichte. Heimat, das kann man als Kind natürlich nicht definieren. Was das ist, wird einem erst später bewußt. Als ich dann zwölf war, beschlossen meine Eltern umzuziehen. Schließlich saß ich hinten auf dem Möbelwagen, spähte durch dessen Bretter und sah unser Haus. Und als der Wagen zu rollen begann, da fiel mein Herz plötzlich ins Bodenlose und ich spürte eine Woge der Unglücklichkeit über mir zusammenschlagen. Natürlich konnte ich die Gefühle noch nicht deuten: „Da geht meine Heimat dahin.“ Aber genau das war es! Und sie ist nie wiedergekommen, denn dieses Heimatgefühl sollte ich immer mehr verlieren, bis ich es endlich nicht mehr für wichtig hielt.

Wieso das?

Steinbach: Heimat war plötzlich nur Erde, Natur, Länder, Menschen und ihre Kulturen. Darüber verging der Schmerz der Trennung, ich fuhr zur See, die Zeit heilte die Wunden und der sich ändernde Verstand auch, ich wurde politisch.

Sie engagierten sich für die SPD.

Steinbach: Ich war Vizevorsitzender der Jusos in Kiel, und ich war ziemlich radikal. Aber schließlich verließ ich die Partei, weil ich merkte, wie infam und niederträchtig viele Leute dort waren, im Kampf um Ansehen und Einfluß. Es gab da die traditionellen Arbeiter und die neueingetreten Intellektuellen, und letztere intrigierten gegen die Arbeiter, daß denen Hören und Sehen verging und sie in ihrer eigenen Partei an den Rand gedrängt wurden. Das hat mich angewidert und ich habe mir eine neue Partei gesucht, von der ich glaubte, daß dort die Gerechtigkeit zu Hause sein müsse, die DKP. Na ja, dort war ich dann schon nach drei Monaten wieder weg. Übrigens: 1969 verpaßte mir die SPD deshalb ein Berufsverbot. Ich war Reporter beim NDR-Regionalfernsehen, das fest in SPD-Hand war. Wegen meiner DKP-Vergangenheit warf man mich glatt raus.

Damals war Ihnen Heimat also politisch verdächtig.

Steinbach: Ich muß zugeben, daß ich in der Tat die Deutschen, die ihre Heimat im Osten verloren hatten und dann hier im Westen daraus Politik gemacht haben, damals regelrecht verachtet habe. Ich hielt sie für Idioten und begriff erst sehr viel später, daß ich in dieser Hinsicht selbst einer war. Aber eben erst sehr viel später, als ich anfing darüber zu lesen, verstand ich, was es bedeutet, verjagt zu werden aus seiner Heimat. Und heute verstehe ich auch, daß manche damit Politik machten. Damals aber habe ich mit meiner Verachtung gegenüber den Vertriebenen beim allgemeinen Mainstream mitgemacht. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich mein damaliges Denken und Verhalten heute beschämt.

Damals stand der einzige Begriff, den Sie von Heimat hatten, in Zusammenhang mit dem Holocaust.

Steinbach: Ja, und das rührt mich heute noch an. Ich denke da etwa an den letzten Oberrabbiner von Altona, Joseph Carlebach, der die Reste seiner Familie und Gemeinde 1941 „auf Transport“ nach Riga begleitete. Deportiert von einer Gesindelminorität, die ganze Landschaften verfremdete, Menschen jeder Herkunft zu Tode brachte, sie umsiedelte, ihnen Heimat für immer nahm. Carlebach dagegen war ein wahrhaft großer, ehrenwerter und religiöser Mensch, und ein Samariter dazu. „Heut war ich in Altona, judenleer und still“, schrieb er an seine Tochter Eva im Juni 1939. Wenn ich das lese, rührt es mich zu Tränen, und ich wünschte mir so sehr, daß sich ein Musiker fände, der unter diesem Text eine Motette schriebe. Und, daß Carlebach und seinen Leuten gedacht würde in Hinsicht zum Begriff Heimat, denn sie alle gehörten bis zu ihrem Tode dazu. Und wie müssen sie gezweifelt haben in der Stunde ihres Todes an Heimat als Ort der Erfüllung der Sehnsucht.

Wie kam es, daß ausgerechnet Sie, dem Heimat so fremd und verdächtig geworden war, 1984 das Drehbuch für Edgar Reitz’ monumentales Werk „Heimat“ geschrieben haben?

Steinbach: Eigentlich kam ich dazu wie die Jungfrau zum Kinde. Aber Regisseur Reitz war mit einem sehr innigen Heimatgefühl gesegnet, während ich keine Ahnung hatte, wo der Hunsrück – wo „Heimat“ spielte – überhaupt lag. Ich lernte also, während ein Fernsehgewaltiger argumentierte, daß die deutsche Geschichte mit der Serie „Holocaust“ schon längst „abgefeiert“ wäre. Ich wollte ihm damals einen Kristallglasaschenbecher durch die Scheibe seines Chefzimmers feuern vor Wut über so viel Ignoranz. Später hat derselbe Herr in einem TV-Interview seine fördernde Rolle vor aller Welt herausgestrichen.

Das heißt, durch „Heimat“ erst haben Sie gelernt, was Heimat sein kann?

Steinbach: Wir wohnten und schrieben damals zwischen den Menschen. Und keinen poetischen Schauer mußten wir herbeizwingen, wenn sie uns von ihrem Leben und Sterben erzählten. Starke und simple Bilder, wildharmonisch hinlaufend, beeindruckten uns. Ich lernte Sprache und Eigenheiten im Hunsrück, lernte den „einfachen“ Menschen zu schätzen und lieben. Das floß alles in die erste „Heimat“ ein, und Millionen Zuschauer spürten die Wahrheit. Mehr kann man nicht erreichen. Übrigens sollte sie „Made in Germany“ heißen. Daß es anders kam, war wohl Gottes Fügung, denn so hätte sie niemals den Weg in die Herzen der Menschen gefunden.

Um den Holocaust allerdings ging es in „Heimat“ dann nicht – was Ihnen prompt Vorwürfe einbrachte.

Steinbach: Wie lustig und unbekümmert waren wir damals beim Schreiben. Und welch unsägliche Diskussion wurde unter den deutschen Intellektuellen geführt, während die Serie mit Erfolg um die Welt eilte. Auf einer Veranstaltung in der Universität von Warwick in England, zu der ich geladen war, merkte ich plötzlich, daß eine Gruppe von älteren Frauen immer wieder in Tränen ausbrach. Wie ich erfuhr, waren sie die alt gewordenen Kinder der Englandtransporte Mitte 1939. Sie weinten nicht als Jüdinnen, die ihre Eltern und Familien für ihre Lebensrettung aufgeben mußten. Nein, sie weinten, weil sie die Heimat verloren hatten, die sie noch immer in ihren Herzen trugen, während anwesende deutsche, linke Autoren immer wieder Beschwerde einlegten, weil wir den Antifaschismus nicht thematisiert hätten – dabei ging es uns um die Verratenen und Verkauften. Lebten die alten Damen noch heute, ich würde sie gern noch einmal fragen, wie sie die unausgesprochene Botschaft unserer Geschichte verstanden hatten. Ich erlaube mir, von Lichtenberg zu reden, der von den gemeinen Leuten sprach – die Vornehmen taugen überall nicht viel in der Welt –, und was die für gute Häute und Seelen wären. Daran hat sich, zumindest im Hunsrück damals, nicht viel geändert. Und so kam es, daß wir Lust an der Liebe hatten und nicht am Brandopfer.

Heute allerdings leben Sie nicht in Ihrer Heimat, sondern in Dänemark.

Steinbach: Ich kenne kein „Ausland“ mehr, ich kenne nur noch Völker und Menschen verschiedener Herkunft, zu denen ich mich zähle. Ich liebe dieses kleine Land mit seinen fröhlichen und toleranten Menschen, seine Hilfsbereitschaft in schlimmer Zeit, die Juden entkommen zu lassen. Natürlich weiß ich auch um die engen Seiten dieses Volkes, um die Selbstüberschätzung, die kleine Nationen vielleicht haben müssen, um sich gegenüber den Großen behaupten zu können. Und die Reaktionen mancher Dänen, wenn sie sehen, daß an meinem Auto ein Aufkleber der Dänischen Volkspartei pappt.

Die als „rechtspopulistisch“ gilt.

Steinbach: Vermutlich bei den gleichen Leuten, bei denen auch beim Namen Ihrer Zeitung die Klappe fällt.

Wie sehen Sie die Partei?

Steinbach: Sie sind Nationalkonservative im besten Sinne.

Deshalb mögen Sie sie?

Steinbach: Nein, ich mag sie, weil sie anderer Meinung ist, als alle anderen, und weil sie es wagen, diese auch öffentlich auszusprechen. Deshalb lese ich ja auch Ihr Blatt. Schließlich geht es doch in der Demokratie darum, daß das möglich ist. Ich frage mich oft, kennt denn keiner mehr das Stück „Hexenjagd“ von Arthur Miller? Kein Auge, das sieht, kein Ohr, das hört. Die „Religions“- und Meinungsschnüffler haben das Sagen.

Religionsschnüffler?

Steinbach: Politische Korrektheit ist doch inzwischen schon so etwas wie eine Religion. Ich sehe diese Figur aus meinem Roman vor mir, die summt ein einfaches Lied: „Demokratie, Demokratie, das ist die schönste Weltanschauungssymphonie!“ Ich habe die Amerikaner einmal dafür geliebt, daß sie uns mit der Demokratie bekannt gemacht haben. Aber wozu sich das einmal entwickeln würde, das hätte ich nicht für möglich gehalten. Wer hätte gedacht, daß eine so große Idee so kleinkariert enden könnte. Schon damals gab es in den USA natürlich einen McCarthyismus, aber das haben wir ja nicht gesehen.

Fühlen Sie sich denn heute als Däne?

Steinbach: Weder als Däne noch als Deutscher, ich fühle mich als Peter Steinbach. Allerdings tut es mir um vieles Gutes hier in Dänemark leid, das uns dieses, wie mein Nachbar immer sagt, „verkackte“ Europa – ich würde sagen, dieses uns aufgezwungene Europa – inzwischen versaut hat.

Was meinen Sie?

Steinbach: Dieses Europa der Gleichmacherei, des Geldes, der Banken, der verlogenen Politiker. Ich wünschte von Herzen, der Nationalstaat käme zumindest in Dänemark wieder zur Geltung.

Was also bleibt von der Heimat?

Steinbach: Tja, wenn ich Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ lese, dann spüre ich so etwas. Natürlich war das eine arme und harte Zeit für die Menschen, aber dieses alte Preußen, so wie es Fontane beschreibt, hat so etwas Fürsorgliches und Wohliges, daß man da gar nicht mehr weg will aus dieser Geschichte. Das könnte Heimat gewesen sein.

 

Professor Peter Steinbach, gilt als „einer der renommiertesten deutschen Drehbuchautoren“ (Focus) und schrieb Kino- und Fernseh-erfolge wie „Stunde Null“, „Deutschland im Herbst“, „Herbstmilch“ oder„Klemperer. Ein Leben in Deutschland“. Sein größter Erfolg war jedoch das Skript für „Heimat“, jenes international beachtete TV-Monumentalwerk von Regisseur Edgar Reitz, das das Genre des „Neuen Heimatfilms“ begründete, und für das Steinbach 1985 den Adolf-Grimme-Preis in Gold erhielt. Geboren 1938 in Leipzig, floh die Familie 1954 in den Westen, wo Steinbach sich zunächst als Seemann, Reporter, Versicherungsvertreter und Taxifahrer durchschlug, bevor er zu schreiben begann und schließlich als Professor an der Universität Hamburg lehrte. Nach preisgekrönten Drehbüchern und zahlreichen Hörspielen – darunter die als „Hörspielproduktion der Superlative“ geltende Radiofassung von „Der Herr der Ringe“ – legte Steinbach im Frühjahr bei Kiepenheuer & Witsch seinen ersten, „meisterhaft gelungenen“ (3Sat-Fernsehen) Roman vor: „Heute für Geld und morgen umsonst“ – „ein großes Buch über Deutschland und die Deutschen“ (Leipziger Volkszeitung).

 

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