© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/12 13. Juli 2012

Das Vermächtnis ist abhanden gekommen
Der 20. Juli 1944 wird als geschichtspolitischer Identitätsanker der Bundesrepublik von der politischen Klasse nicht glaubhaft artikuliert
Thorsten Hinz

Die Verschwörer des 20. Juli von links bis rechts, ob Militärs, Adlige, Bürger oder die Vertreter der Arbeiterschaft, sie einte dreierlei: Sie wollten den Krieg beenden. Sie wollten Deutschland von der Schande befreien, die in der Person Hitlers verkörpert war. Sie wollten Deutschland als selbstbestimmten politischen Faktor erhalten. Ihre außenpolitischen Überlegungen bauten allerdings auf Illusionen. Enttäuscht vermerkten die Gestapo-Beamten, die die Verhöre in den sogenannten „Kaltenbrunner-Berichten“ zusammenfaßten, daß die Verschwörer keinen gangbaren Weg zu einem Friedensschluß jenseits der bedingungslosen Kapitulation weisen konnten. Doch nicht das ist der Grund, warum der 20. Juli trotz aller staatlicher Lippenbekenntnisse der Bundesrepublik wie eine querliegende Fischgräte im Halse steckt. Seine latente Provokation liegt darin, daß die Beteiligten an einem emphatischen Begriff vom eigenen Land festhielten und dieses Bekenntnis mit ihrem Blut bezeugten.

Der Publizist und FAZ-Herausgeber Joachim Fest schrieb in seinem 1994 erschienenen Buch „Staatsstreich“ zutreffend, der deutschen Öffentlichkeit sei „mit dem dramatischen Gesamtbild, das von diesem Geschehen so unablösbar ist, auch das Vermächtnis des Widerstands abhanden gekommen“. Unsicher wurde Fest bei der Begründung der Amnesie. Er wich der Frage, warum die Westmächte den deutschen Widerständlern jede Unterstützung verweigerten, ins Unpolitische, nämlich in die Vermutung aus, daß der „grenzüberschreitende Moralismus“ des Widerstands „noch immer zu früh gekommen“ sei. Die Erwägung, daß Hitler ein nicht unwillkommener Vorwand war, um Tabula rasa zu machen und Deutschland als machtpolitischen Faktor endgültig auszuschalten, konnte sich Fest als Etablierter des Medienbetriebs nicht leisten. Hier verläuft die Grenze der bundesrepublikanischen Publizistik und Geschichtsschreibung und beginnt das politische Tabu.

Der 20. Juli wird zwar gewürdigt, aber in vorsichtiger Dosierung. Als erinnerungspolitischer Identitätsanker und Bezugspunkt ist er unerwünscht. Auschwitz als „Gründungsmythos“ (Joschka Fischer) der Bundesrepublik kann keine Konkurrenz dulden. Nicht einmal Stauffenberg spielt im allgemeinen Bewußtsein eine größere Rolle. Die Versuche rechtsalternativer Kreise, daran etwas zu ändern, versprechen keinen durchschlagenden Erfolg, dazu wäre Unterstützung aus der Kulturindustrie nötig. Aber auch die ist – siehe Theodor Adorno – Teil des Systems.

Eine psychologische Schwierigkeit ergibt sich daraus, daß die Verschwörer gegen Hitler real Gescheiterte sind. Um aber die tragische Größe nachzufühlen, die gerade im Scheitern und Leiden liegen kann und für die Namen wie Hölderlin, Kleist, Grabbe, Günderode stehen, fehlen das Sensorium und die kulturgeschichtliche Bildung. Auch der Opferstatus, der im postaristokratischen, postbürgerlichen und postheroischen Zeitalter so populär ist, soll den Männern des 20. Juli nicht zuerkannt werden, denn sie haben sich nicht vom „Tätervolk“ absentiert, sondern traten weiterhin für seine geschichtliche und politische Würde ein.

Eine Wende schien sich mit dem Hollywood-Star Tom Cruise anzubahnen, der 2008 seinen Stauffenberg-Film „Valkyrie“ präsentierte. Sogar die FAZ hoffte damals, der Film würde das Bild Deutschlands weltweit positiv verändern. Gerade diese Aussicht alarmierte die deutschen Politiker und Medien jedoch mehrheitlich. Schon vorab setzte eine Kampagne ein, die darauf abzielte, die Wirkung des Film zu minimieren. Ein bald danach im Orkus versunkener Verteidigungsminister (Franz Josef Jung) weigerte sich zunächst, den Bendler-Block, wo sich 1944 die Verschwörer-Zentrale befand, als Drehort zur Verfügung zu stellen. Als Vorwand diente die Zugehörigkeit des Hauptdarstellers zur Scientology-Kirche. „Der mutige deutsche Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur“, sagte ein nachrangiger CDU-Politiker, „darf nicht für die PR-Zwecke einer gefährlichen und totalitären Psycho-Organisation wie Scientology mißbraucht werden.“ Gefürchtet wurde in Wahrheit nicht der Mißbrauch des Umsturzversuchs – den gab es nicht –, sondern seine endlich massenwirksame Würdigung und die kollektive Katharsis, die sie hätte auslösen können. Als Vorwurf wird formuliert, daß die Männer des 20. Juli mehrheitlich keine Demokraten waren, jedenfalls nicht im heutigen Sinne. Nun ist es ebenso unhistorisch wie kleinlich, den eigenen Bewußtseinsstand, der in aller Regel nur das gesellschaftliche Ensemble der Gegenwart reflektiert und schon morgen als überholt oder widerlegt gelten kann, als richterlichen Maßstab an die Vergangenheit anzulegen.

Doch auch Eifersucht und Verunsicherung spielen eine Rolle: Die Massen- und Opportunitätsdemokraten – um solche handelt es sich ja im Durchschnitt – ahnen, daß die Verschwörer einen Bekenntnismut und menschlichen Anstand unter Beweis gestellt haben, über die sie selber nicht verfügen. Daraus ergibt sich die für sie unerträgliche Einsicht, daß ein Nicht- oder Antidemokrat einem Demokraten moralisch, sittlich und ästhetisch ohne weiteres überlegen sein kann.

Das Unbehagen hat zudem einen politisch-operativen Grund: Bereits die antiken Denker, angefangen bei Platon, wußten, daß die Demokratie entgleiten und das Übel der Tyrannis und Ochlokratie hervorbringen kann. Es entstehen dann informelle Mechanismen, durch die das Bessere, das im Demos schlummert, durch niedere Kräfte und Instinkte unterdrückt und unwirksam gemacht wird, ohne daß die äußeren Regeln und Abläufe formal außer Kraft gesetzt sind. Der scharfblickende Oswald Spengler beschrieb 1924 die Gefahr, daß in der politischen Klasse eines Landes „ein letzter heimlicher Wunsch“ aufdämmern kann, „schurkischer als alle, die vorausgegangen sind: der Wunsch, sich den Folgen einer Umstimmung des Volkes endgültig dadurch zu entziehen, daß man (...) sich als Vollzugsorgan von den Gegnern legitimieren und seine Stellung damit von jeder inneren Krise unabhängig machen läßt“. Dann ist es sinnlos geworden, weiterhin auf die Vernunft der Mehrheitsbeschlüsse zu setzen, der Entschluß zur Gegenwehr legitimiert sich dann wie am 20. Juli 1944 ausschließlich aus einem unanfechtbaren Ich.

Foto: Tom Cruise als Claus Schenk Graf von Stauffenberg (l.), Jamie Parker als Werner von Haeften (M.) und Christian Berkel (r.) als Albrecht Mertz von Quirnheim in „Operation Walküre“ (2008): Offizielles Unbehagen

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