© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/12 13. Juli 2012

Bilderkult um ein Kultbild
Ausstellung rund um die „Sixtinische Madonna“ in der Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister
Sebastian Hennig

Vor fünfhundert Jahren entstand Raffaels Meisterwerk, das zum Symbol jener berühmten Dresdner Gemäldegalerie wurde, deren Neorenaissance-Bau Gottfried Semper als edle Hülle für das kostbare Werk bildete. Die erste Hälfte seines Daseins blieb das Gemälde allerdings in der italienischen Provinz Emilia, auf dem Hochaltar der Kirche San Sisto in Piacenza. Papst Julius II. stiftete es als Siegeszeichen der von seinen Truppen 1512 eroberten Stadt.

Ganze zwei Jahre feilschte der sächsische Unterhändler mit dem Kloster, der Kurie und den Zollbehörden um den Ankauf, ehe es 1753 in Dresden eintraf. Mit den Worten: „Platz für den großen Raffael!“ soll August III. seinen Thron beiseite gestoßen haben. Adolph von Menzel hat die Anekdote hundert Jahre darauf in einer Gouachemalerei dargestellt.

Mit vielen weiteren Werken und Dokumenten ist das Blatt im Gobelinsaal der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden zur Geburtstagsfeier um die „Sixtinische Madonna“ versammelt. Die namensgebenden Repliken von den Raffael-Gobelins aus der Vatikanischen Pinakothek mußten dafür von ihrem Platz weichen. Da aber beachtliche Leihgaben nach Dresden gelangten, ist dennoch mehr Raffael zu sehen als sonst.

Der Karton zur „Macintosh Madonna“ aus London, eine Kreidezeichnung mit Weißhöhungen, ist eine vollwertige monochrome Malerei. Die Madonna blickt abwesend unter gesenkten Lidern, der Knabe lächelt pausbäckig. Eine Zeichnung aus dem unmittelbaren Entstehungsumfeld der Sixtinischen Madonna „Mutter mit Kind“ aus Oxford zeigt mehr als ein Miteinander von Sohn und Mutter. Dieser mystischen Einheit gegenüber wirken die sechs Studien zum gleichen Motiv auf dem Blatt von Marco Zoppo wie die verschiebbaren Figurinen eines Bühnenbildners. Gezeichnete Amoretten zeigen im Kleinen die großartige Virtuosität und Kraft Raffaels. Ein rächender Engelskopf zieht seine wehenden Haare nach wie eine schöne Furie. Ein herrlicher Putto aus der Kunsthalle Hamburg besteht aus kräftigen Kreideschwüngen, die präzise und frei gesetzt sind. Flächen des kugelrunden Kopfes wurden mit dem Handballen gewischt.

Auf dem Bild des Florentiners Filippino Lippi ist die Madonna riesig wie eine Schwester Goliaths oder besser vielleicht des Christophorus. Ein kniender Franziskaner langt der Sitzenden nur ans Knie, der heilige Antonius dahinter erreicht ihren Ellbogen. Den Vermutungen und Assoziationen um das Bild verdankt sich die Anwesenheit einer Reihe erstklassiger Kunstwerke. Darunter das zeitgleich zur Sixtina entstandene Porträt der „Donna Velata“ aus der Galeria Palatina in Florenz. Es gilt jener rätselhaften Schönen, deren Züge auch die Madonna des Altarbildes trägt. Ein verführerischer zarter Haarkringel hat sich aus der strengen Fassung ihrer Frisur gelöst und touchiert die Augenbraue, um an der zierlichen Ohrmuschel anzulangen.

Von anderem Schrot und Korn ist das Bildnis Papst Julius II. Der lehnt zwischen den Säulen seines Thrones, die in große vergoldete Eichelfrüchte ausgehen, das Zeichen der Familie Rovere, das auch auf der Tiara zu Füßen des Heiligen Sixtus auf dem Madonnenbild wiederzufinden ist und an dem Prunkschwert, das er seinen eidgenössischen Prätorianern verehrte. Im Jahr 1506 berief er die Schweizer Garden. Damals legte er auch den Grundstein zur neuen Peterskirche, der im Norden zum Stein des Anstoßes der Reformation wurde.Luther nannte den schlagfertigen Papst einen „Blutsäufer“. Ein solcher hat also das liebliche Gemälde von Mutter und Kind beauftragt.

Es wird deutlich, daß die Verbindung der meisten Exponate untereinander rein historisch-literarisch bleibt. Und daß die Leinwandbilder wegen der Anwesenheit der fragilen, ein halbes Jahrtausend alten bezeichneten Papiere ebenfalls aus schummrigem Halbdunkel hervorleuchten müssen, ist bedauerlich. Die inszenierte Exklusivität nimmt der Malerei viel von ihrer natürlichen Aura, degradiert sie zu kostbaren Sehenswürdigkeiten. Sie erzählen weniger die Geschichte, die sie darstellen, als über ihre Entstehung und Fortdauer.

Der gewaltige Bildband kann angemessener auf diese Verhältnisse eingehen, als einer kleinen Ausstellung mit den zum Teil großartigen Bildern zumutbar ist. Er enthält einen Essay über ein Streitgespräch von einstigen Schulkameraden am Freiburger Gymnasium, dem Kunsthistoriker Theodor Hetzer und dem Philosophen Martin Heidegger. Dieser fühlt sich von der Behauptung des Fachwissenschaftlers über das Bild („... als es nach Dresden kam, wurde offenbar, daß es überall zu Hause ist“) herausgefordert: „Das museale Vorstellen ebnet alles ein in das gleichförmige der ‘Ausstellung’. In dieser gibt es nur Stellen, keine Orte.“

Die Stelle vor dem Bild wirkte um 1800 für den Dresdner Romantikerkreis wie eine ästhetische Leimrute. Der Maler Gerhard Kügelgen holte in seiner Teilkopie nur die Madonna mit dem Knaben wie mit dem Feldstecher heran. Ernst Ferdinand Oehme, ein Schüler Caspar David Friedrichs, zeigt auf seinem Bild „Die Villa Raffaels in Rom“, wie der Maler beim Schlendern durch den Park der Villa Borghese seiner leibhaftigen Bildidee, einer anmutigen Mutter mit Kind, ansichtig wird. 1776 bemerkte der junge Goethe dazu: „Hat Raffael was anders, was mehr gemalt, als eine liebende Mutter mit ihrem Ersten, Einzigen? Und war aus dem Sujet etwas anders zu malen?“

Die Nazarener-Brüder Riepenhausen dagegen überhöhen den schlichten Vorfall zum „Traum Raffaels“: Dem schlummernden Maler schwebt in seiner dämmrigen Werkstatt die Mutter mit dem Jesuskind entgegen. Er erlebt das, was Raffaels Bild seither dem Betrachter vermittelt: eine visionäre Ankunft von Himmel, in das Fenster einschwebend.

Zwischen 1939 und 1955 war die Stelle leer, und das Bild wurde erst vor der Fliegergefahr verborgen und nach Kriegsende von den Russen ins Beutekunstdepot nach Moskau gebracht. Wie sein vormaliger Räuberfreund beabsichtigte auch Stalin ein großes Führermuseum. Aber nach seinem Tod kam die Sixtina wieder nach Dresden, als vertrauensbildende Maßnahme der gedachten Brudervölker. Das Propagandamärchen von der wundersamen Rettung der Bilder wurde in Farbe verfilmt, mit Musik von Schostakowitsch. Die tatsächlichen Verhältnisse dieser „Präsenz im Verborgenen“, soweit sie bekannt sind, beleuchtet ein Aufsatz von Thomas Rudert.

Eine Darstellung des Arbeitszimmers von Wilhelm Grimm zeigt als beherrschenden Bildschmuck eine große Reproduktion des Bildes. Sein Sohn Herman Grimm verkündete in einem Buch „Raphael als Weltmacht“ und beschrieb die Wirkung an einem Beispiel: „... es sei bei einem Familienfeste diese Madonna jungen Leuten zum Geschenk gemacht worden. Es habe eine Überraschung stattfinden sollen und die eingeladene Gesellschaft sei unversehens in das Zimmer geführt worden, wo die Madonna stand. Es sei eine plötzliche Stockung der Gedanken eingetreten und Einige von den Anwesenden seien in Thränen ausgebrochen.“

Im Kataloganhang sind Erlebnisse und Reaktionen von Zeitgenossen wiedergegeben. Ein Geistlicher berichtet davon, wie er Anfang der achtziger Jahre beobachten konnte, wie ein einfacher russischer Soldat Blumen vor dem Bild niederlegte. Daß der sechsjährige Emil Berger sich vor allem von den Engeln angezogen fühlt, liegt genauso an seiner Perspektive, wie sein Kommentar auf einen Hinweis zum Alter des Bildes: „da braucht man’s doch nicht mehr ...“ Tut Kindermund Wahrheit kund und sollen also Mühe um Erhaltung und Kult von Jahrhunderten umsonst gewesen sein?

Nicht die Bilder sind es, die sich derzeit auflösen, es sind die Museen. Aus dem Unteilbaren der Gemälde wurde nur geliehen, ohne diese dadurch zu vermindern. Die pausbäckigen Engelchen, die an der unteren Bildkante lümmeln, führen lange in der Kitschindustrie ein flatterhaftes Eigenleben. Abgesehen von der Wertschätzung, die dem wohlverstandenen Ganzen als harmonischster Bildschöpfung der Hochrenaissance zukommt, holte sich jeder was er begehrte und teilweise von weit her: Auf einer indischen Farblithographie aus den zwanziger Jahren wird Krishna von seiner Mutter Yashoda gehalten.

Die Ausstellung „Die Sixtinische Madonna. Raffaels Kultbild wird 500“ ist bis zum 26. August in der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden, Semperbau am Zwinger, Theaterplatz 1 täglich von 10 bis 18 Uhr, Do. und Sa. bis 21 Uhr, zu sehen. Telefon: 03 51 / 49 14 20 00

Der Katalog mit 380 Seiten und 390 Abbildungen kostet im Museum 29,95 Euro.  www.skd.museum/de

Foto: Raffael, Die Sixtinische Madonna, Öl auf Leinwand, 1512/13: Harmonische Bildschöpfung

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