© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/12 13. Juli 2012

Erzengel ohne Pracht
Physik: Wissenschaftler wollen im Genfer Kernforschungszentrum das sogenannte „Gottesteilchen“ entdeckt haben
Andreas Wild

Das mediale Echo ist gewaltig und erzeugt immer neue Nebenechos. In der Genfer Hadronenschleuder CERN, so verkündet man, sei das sogenannte „Gottesteilchen“ nachgewiesen worden, und damit sei das „Standardmodell“ der modernen Physik vom Aufbau der Materie nun glorios bestätigt. Es ist erreicht! Die Jubelchöre wollen kein Ende nehmen.

Die Leute müssen’s wirklich nötig haben. Denn in Wahrheit ist überhaupt nichts erreicht. In Genf ist den Beschleunigern lediglich ein „Teilchen“ über den Weg gelaufen, das dem gesuchten „Gottesteilchen“ bis aufs I-Tüpfelchen gleicht. Es ist etwa so, als heiße das Gottesteilchen Müller-Schulze, und übern Weg gelaufen ist ein Teilchen namens Miller-Schulze. Die Differenz ist zugegebenermaßen klein, aber in einer Branche wie der Teilchenphysik, wo es auf aller-, aller-, allerkleinste Differenzen ankommt, darf man so etwas nicht vernachlässigen.

A propos Gottesteilchen: Gott ist – nach allen Vorstellungen, die man sich von ihm macht – kein Teilchen, sondern das Ganze. Das Gottesteilchen der theoretischen Physik ist folglich ein Widerspruch in sich. Man denkt es sich als universalen Sirup, der die Welt im Innersten zusammenhält, indem er die übrigen umherschwirrenden Teilchen mit „Masse“ versorgt und sie dadurch abbremst. Es ist also, wenn es wirklich existiert, ein bloßer Gehilfe Gottes, gewissermaßen ein Erzengel ohne Prachtentfaltung, eine Art Klebstoff, Uhu-Leim.

Und à propos Standardmodell: Es ist, bei allem Respekt, ein bißchen allzu irdisch gestrickt. Schon in der Sonne, dem für uns zuständigen Lebensstern,  zerfallen alle Teilchen immer und immer wieder, jeder Klebstoff verliert seine Klebekraft, die solare Energie ist Produkt eines gigantischen Weltraumreaktors, in dem sämtliche Elemente einen wilden Seinstanz aufführen, dem kein Denkmodell etwas anhaben kann.

Das derzeitige Getöse um die „Entdeckung des Gottesteilchens“ wirkt doch ziemlich parvenühaft. „Habt ihr’s nicht ’ne Nummer kleiner?“ kann man da nur seufzen.

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