© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/12 13. Juli 2012

Große Geschichte, ernüchternde Gegenwart
Slowenien: Die Europäische Kulturhauptstadt Marburg an der Drau zwischen Finanzkrise, Steirertum und antideutschen Ressentiments
Martin Schmidt

Vor kuzem zog die slowenische Tageszeitung Večer vorläufige Bilanz. Fast die Hälfte des Kulturhauptstadtjahres 2012 in Marburg an der Drau (slow. Maribor) sei vorbei, das Programm gut, doch die als visionär angekündigten Architekturprojekte mit schwindelerregend hohen Investitionssummen verliefen im Sand, denn „der Plan der Stadt, für diesen Architektur-Poker staatliche Mittel zu erzwingen, ist nicht aufgegangen“. Dennoch fällt das Resumee eher positiv aus und mündet in einen angesichts des aktuellen europaweiten Verschuldungswahns erfrischend realistischen Ausblick: „Es werden schöne Erinnerungen an die Kulturhauptstadt bleiben, doch die angekündigte nachhaltige Entwicklung wird Maribor nicht erleben. Vielleicht ist das auch gar nicht so schlecht, denn all die Versprechungen, die Umsetzung der Projekte, die Instandhaltung und die Personalkosten hätten die Stadt wohl in den Ruin getrieben.“

Die mit 117.000 Einwohnern zweitgrößte slowenische Stadt trägt den Ehrentitel Kulturhauptstadt Europas 2012 gemeinsam mit dem portugiesischen Guimarães. Im Verbund mit den Kommunen Pettau (Ptuj), Rudolfswerth (Novo mesto), Olsnitz (Murska Sobota), Wöllan (Velenje) und Windischgrätz (Slovenj Gradec) hatte man sich in einem engagiert geführten Vorentscheid sogar gegen die ansonsten alles dominierende Hauptstadt Laibach (Ljubljana) durchgesetzt.

Endlich, so schien es, würde es eine erkennbare Stärkung der unterentwickelten östlichen Landesteile und der Provinzmetropole Marburg geben. Denn während Laibach nach dem Untergang des Sowjetimperiums zu einem schmucken Kultur- und Verwaltungszentrum herausgeputzt wurde und in dem im  Südwesten gelegenen slowenischen Zipfel Istriens der Tourismus die Kassen füllt, glaubt sich der Osten vernachlässigt und sieht sich schmerzhaften Strukturreformen ausgesetzt.

Letztere treffen den traditionellen Gewerbe- und Industriestandort Marburg, der sechs Jahrhunderte lang als Teil des Herzogtums Steiermark zu Österreich gehörte, besonders schwer. Die Entwicklung der Draustadt hatte sich mit der Eröffnung der Eisenbahnverbindung zwischen Wien und Triest im Jahre 1846 rasant beschleunigt. Mindestens bis zum Ende der Donaumonarchie blieb der aus der frühmittelalterlichen „Marchpurg“ hervorgegangene urbane Mittelpunkt der sogenannten Untersteiermark (Spodnja Štajerska) ökonomisch bedeutsam. Noch in den Jahren der Zugehörigkeit zum Großdeutschen Reich während des Zweiten Weltkrieges siedelten sich dort die Flugmotorenwerke Ostmark an, ein umfangreicher Zweigbetrieb der Junkers- und später der Daimler-Benz-Werke. Auch vor diesem Hintergrund kam es zu schweren Bombardements der Westalliierten, deren Zerstörungen im Stadtbild sich bis heute erkennen lassen.

Nach 1945 ging mit der sozialistischen Planwirtschaft die Entwicklung zum Zentrum der jugoslawischen Schwerindustrie einher. Zahlreiche Arbeitskräfte aus Kroatien, Serbien, Bosnien und Mazedonien kamen hierher und machten Marburg zu einem multikulturellen melting pot. Als Folge des Wendejahres 1991 verlor man dann einen Großteil der alten jugoslawischen Absatzmärkte; die international nicht mehr konkurrenzfähigen Fabriken mußten reihenweise schließen. 16.000 Menschen sind mittlerweile arbeitslos, Tendenz steigend. Die seit der slowenischen Unabhängigkeitserklärung gegründeten rund 3.000 Kleinunternehmen mit jeweils nur einigen wenigen Angestellten vermochten das Heer der Entlassenen nicht aufzufangen. Das mittlere Einkommen der einst eher privilegierten Marburger beläuft sich heute bloß noch auf 75 Prozent des Landesdurchschnitts.

Manche wandern ab, andere flüchten in Jugostalgie oder suchen im Stadion der Spitzenfußballer des NK Maribor nach kollektiver Identität, wieder andere widmen sich der jahrzehntelang unterdrückten religiösen Sinnsuche und strömen an den Sonntagen in die gut besuchten Gotteshäuser. Viele sind aber auch einfach nur stolz auf „ihr Maribor und ihr Steirertum“, von dem ein Dialekt zeugt, der in anderen Landesteilen Sloweniens leicht erkannt wird und den ungeliebten Hauptstädtern immer wieder als Aufhänger für Neckereien über die „Provinzler“ im Osten dient. Nicht zuletzt ist da noch die Universität, die mit über 26.000 Studenten die zweitgrößte der Republik ist, sowie der Tourismus mit zuletzt 1,5 Millionen Tagesgästen pro Jahr.

Um der stetigen Abwanderung speziell jüngerer, häufig studierter Arbeitskräfte entgegenzuwirken, braucht es dringend neue Hoffnung und so etwas wie Aufbruchstimmung. Dies erkannte auch Vize-Bürgermeister Janez Ujcic und proklamierte als Hauptziel des Kulturhauptstadtjahres die Schaffung eines „neuen Selbstbewußtseins“. Entsprechend lautet das Motto des Festjahres: „Turning Point“ (Wendepunkt).

 Was die bis heute in vielfacher Hinsicht fortwirkenden engen historischen Beziehungen der Untersteiermark zum jetzigen österreichischen Bundesland Steiermark und dessen Hauptstadt Graz angeht, ist von einer Wende bisher allerdings wenig zu spüren. Im Kulturhauptstadtprogramm ist von diesem objektiv wichtigen kulturellen Erbe nämlich nur wenig zu finden. Wer die maßgeblichen Politiker und Kulturfunktionäre hierauf oder gar auf die in Marburg verbliebene kleine deutsche Minderheit anspricht, stößt auf betretenes Schweigen oder erhält ausweichende Antworten.

Deshalb ist es rührend mit anzusehen, wie sich der Kulturverein deutschsprachiger Frauen „Brücken“ vor Ort der Förderung der deutschen Kultur und Sprache widmet. Deren Vorsitzende, Veronika Haring (Jahrgang 1948), erfuhr erst spät über ihre deutsche Herkunft. Doch damals, so Haring, „getraute man sich nicht, deutsch zu sprechen.“ Überhaupt macht sie keinen Hehl daraus, daß es sie stört, daß die „Menschen deutscher Herkunft mit den Ereignissen der Jahre zwischen 1941 und 1945 gleichgesetzt werden, als ob diese Region nur auf diese Zeitspanne zurückblicken kann.“ Dabei seien die Deutschen „schon im 8. Jahrhundert hier“ gewesen und hätten zusammen mit den Slowenen einen „gemeinsamen Kulturraum“ geschaffen. Heute schätzt Haring die deutsche Minderheit auf 3.600 bis 3.800 Personen.

Überhaupt ist das Verhältnis der Slowenen zu den deutschen/österreichischen Nachbarn ein Kapitel für sich. Kaum irgendwo sonst in Europa sitzen antideutsche Ressentiments derart tief. In Marburg ist das nicht anders, obwohl der Ort schon kurz nach dem Erwerb der Stadtrechte 1254 in den Besitz der Habsburger übergegangen war (1282), die ihr ein jahrhundertelanges wirtschatlich-kulturelles Wohlergehen mit etlichen Privilegien ermöglichten.

Anfang des 20. Jahrhunderts lag der Anteil der Deutschen an der Marburger Bevölkerung bei 80 Prozent, während im ländlichen Umland die Slowenen klar in der Mehrheit waren. Der Erste Weltkrieg setzte der langen Zugehörigkeit zu Österreich ein gewaltsames Ende. In der Folgezeit belasteten auf slowenischer Seite, verstärkt nach dem Zwischenspiel der Zugehörigkeit zum nationalsozialistischen Großdeutschen Reich, tatsächliche und bloß gefühlte Unterdrückungen sowie Assimilationsängste die Beziehungen zum nördlichen Nachbarvolk.

Quintessenz: Hochgestellte Personen wie Mirjana Koren, die Direktorin des Regionalmuseums, können gut Deutsch, gebrauchen dies im Gespräch mit deutschen Delegationen, die die Kulturhaupstadt besuchen, aber nicht, sondern lassen sich Fragen mit demonstrativer Geste ins Slowenische übersetzen. Die Exponate des im Schloß untergebrachten Museums sind slowenisch und englisch beschriftet, nicht jedoch deutsch. Kritische Hinweise darauf, daß in Marburg die mit Abstand größte Gruppe ausländischer Besucher augenscheinlich aus deutschsprachigen Ländern kommt, werden mit der üblichen Bevorzugung des Englischen als „universaler Sprache“ begründet.

Doch allen Widrigkeiten zum Trotz kommen gerade im Jahr 2012 wieder viele Österreicher regelmäßig über die Grenze, um in Marburg beispielsweise das größte slowenische Theater mit seinen vergleichsweise günstigen Eintrittspreisen zu besuchen oder um im nahen Bacherngebirge (Pohorje) Ski zu fahren.

Wer auf deutschen Spuren durch die von Bombenkrieg, Wildwuchs, sozialistische Bausünden und Verfall geprägte, stellenweise dennoch sehenswerte Innenstadt spaziert, wird in hohem Grade fündig. Man stößt auf architektonische Kostbarkeiten wie das Rokoko-Treppenhaus am Schloß mit seinen anmutigen Engeln, das von dem familiär in Württemberg verwurzelten Bildhauer Josef Straub geschaffen wurde, und auf Erinnerungen an die Dirigententätigkeit von Robert Stolz im Stadttheater. In der Slowenischen Gasse/Slovenska ulica steht das Geburtshaus des österreichischen Admirals Wilhelm von Tegetthoff (1827–1871), des Siegers in der Seeschlacht von Lissa gegen die Italiener im Jahre 1866. Mehrere Kulturhauptstadtprojekte, insbesondere eine Ausstellung in der Universitätsbibliothek, beziehen sich auf diesen Sohn der Stadt.

Auch das am Drauufer gelegene „Haus der Alten Rebe“ mit dem ältesten edlen Weinstock der Welt ist einen Abstecher wert. Dieser gehörte der Legende zufolge zu einem jener Rebstöcke, die vor über vier Jahrhunderten aus Freude über den Sieg gegen die türkische Fremdherrschaft gepflanzt wurden.

Foto: Historische Innenstadt von Marburg a.d. Drau: Vor allem die über 25.000 Studenten sollen der Stadt zu neuem Selbstbewußtsein verhelfen

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