© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/12 13. Juli 2012

„Das Deutschlandhaus betrat man als Linker nicht“
Geschichtspolitik: Bevor der Umbau beginnt, widmet sich das Berliner Vertriebenenzentrum den Erlebnissen der zweiten und dritten Generation
Ekkehard Schultz

Bevor in wenigen Wochen der Umbau des Berliner Deutschlandhauses zum Museum und Dokumentationszentrum der Stiftung Flucht, Vertreibung,Versöhnung beginnt, gab eine Veranstaltung in den Räumen des künftigen Vertriebenenzentrums bereits jetzt einen Eindruck von dem Stoff, der die Besucher hier bald erwarten wird.  

Bei dieser Gelegenheit wies die wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung, Andrea Moll, darauf hin, daß sich die verbreitete Ansicht, nach der die Geschichte der Vertreibung der Deutschen aus Mittel- und Osteuropa in erster Linie ein Thema der Vergangenheit sei, nicht bewahrheitet habe. Vielmehr erfolge die Auseinandersetzung über sechs Jahrzehnte nach den Ereignissen häufig nicht nur intensiver, sondern auch weit persönlicher als je zuvor. Daran habe insbesondere die Kinder- und Enkelgeneration einen großen Anteil, die sich das historische Geschehen zwar in einer deutlich anderen Weise aneigne als ihre Eltern und Großeltern, jedoch davon nicht weniger berührt sei. Dies würde wiederum dadurch erleichtert, daß das verbreitete Schweigen vieler Betroffener in den vergangenen Jahren gebrochen werden konnte, während zugleich das Interesse der Nachkommen an diesem Kapitel der Familiengeschichte wuchs. 

Ein anschauliches Beispiel dafür boten auch die beiden Autorinnen, die an diesem Abend Abschnitte aus ihren Büchern vortrugen und zur Diskussion stellten. Die 1943 geborene Jenny Schon beschrieb eine abenteuerliche Fahrt, die sie in den neunziger Jahren von Berlin nach Trautenau (Böhmen) am Rande des Riesengebirges führte. In diese Schilderung baute sie immer wieder Versatzstücke aus ihren eigenen Kindheitserlebnissen sowie aus den Erlebnissen ihrer Mutter ein. Die 1955 geborene Autorin Ina Weisse hingegen berichtete von der Herkunft ihrer Familie aus Lodsch, die dort eine Textilfabrik besaß. Nach der Flucht folgte ein schwieriger Neuanfang in Berlin.

Sowohl bei Schon als auch bei Weisse war die Beschäftigung mit diesem Thema  alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Über Jahrzehnte hinweg hatten die Autorinnen weder einen Zugang zu diesem Kapitel der Familiengeschichte noch zur Vertreibung überhaupt. So war Schon nach ihrem Studium in den sechziger Jahren eifrig in der linken und maoistischen Bewegung aktiv. Als solche habe sie die Vertriebenenorganisationen als Teil des „Kalten Krieges“ gesehen. „Das Deutschlandhaus betrat man als Linker sowieso nicht“, erzählte Schon. In den siebziger Jahren sei sie bei einem längeren Besuch in China gefragt worden, ob sie nicht Heimweh nach Deutschland empfinde. Darauf habe sie damals getreu ihrer damaligen Überzeugung geantwortet, daß „ein Revolutionär kein Heimatland“ habe und auch „keines benötige“.

Erst nach der Friedlichen Revolution und den Umbrüchen in Osteuropa änderte sich diese Einstellung allmählich. 1992  trat sie zum ersten Mal auf Rat ihrer Mutter eine „Fahrt in die Heimat“ an, damals noch aus reiner Neugier. Danach habe sich jedoch das Interesse an dieser Geschichte durch den Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien verstärkt. Denn bei der Wahrnehmung des Schicksals der dortigen Flüchtlinge und Vertriebenen erhielten auch wieder die eigenen, verdrängten Kindheitserinnerungen ein stärkeres Gewicht. Nun entstanden die ersten Bücher und Erzählungen, auf denen sie von weiteren Reisen nach Tschechien berichtete. Stein für Stein setzte Schon ein historisches Puzzle zusammen und begann nun, mit ihrer Mutter intensiver über deren unmittelbare Erlebnisse zu sprechen. Dabei stellte sich heraus, daß ihre Mutter während der Vertreibung vergewaltigt wurde.

Auch bei Weisse entwickelte sich das heutige Interesse an der Vertreibung und dem Leben von Deutschen im Osten erst auf Umwegen. Sie bezeichnete den Prozeß der Annäherung zwischen Polen und Deutschen als überaus steinig. Häufig gebe es dabei Rückschläge. So habe ihr bei einer ihrer letzten Reisen nach Lodsch ein Pole offen mitgeteilt, daß „ein Pole oder ein Jude nie Mitleid mit einem Deutschen empfinden“ könne. Solche Erlebnisse seien auch ein wichtiger Grund dafür, weshalb sie in ihren Büchern die heutige Stadt trotz der sehr gut renovierten oder rekonstruierten Fassaden häufig eher in grauen Farben schildern würde. Auch bei der Verständigung sei es oft leider nur die Fassade, während man „in den Hinterhäusern immer noch auf viel Verfall stoßen“ würde, so Weisse.

Auf der anderen Seite müsse man sich aber auch in das Gedächtnis rufen, wie lange tatsächlich die Deutschen mit Polen und Juden in Lodsch relativ problemlos Tür an Tür wohnten. Dies allen Seiten zu vermitteln – auch den Deutschen, deren Mehrzahl auch heute noch sehr wenig davon wisse – sei noch eine Aufgabe der Zukunft.

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