© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/12 13. Juli 2012

Der Bürger als Hüter der Verfassung
Grundgesetz: Das in Artikel 20 verankerte Widerstandsrecht erweist sich in der Praxis als wenig praktikabel
Eike Erdel

In der Diskussion um den ESM und die Übertragung deutscher Souveränitätsrechten nach Europa wird gelegentlich auf das im Grundgesetz verankerte Widerstandsrecht verwiesen. Doch hat diese Regelung überhaupt eine  praktische Bedeutung? 

In den ersten drei Absätzen bestimmt Artikel 20 des Grundgesetzes die verfassungsgestaltende Grundentscheidung der Bundesrepublik für Demokratie, Bundesstaatlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“

Mit der Einführung der sogenannten Notstandsgesetze im Juni 1968, die die Grundrechte der Bürger im Spannungs- und Verteidigungsfall, bei innerem Notstand und im Katastrophenfall einschränkten, wurde ein vierter Absatz angefügt, wonach alle Deutschen das Recht zum Widerstand gegen jeden haben, der es unternimmt, die in Artikel 20 festgelegte Verfassungsordnung zu beseitigen, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Mit diesem Widerstandsrecht sollten Kritiker der Notstandsgesetzgebung besänftigt werden. Schon 1956 in seinem Urteil zum KPD-Verbot, also noch vor Aufnahme des Widerstandsrechts in das Grundgesetz, hat das Bundesverfassungsgericht die Existenz eines ungeschriebenen Widerstandsrechts für möglich gehalten, die Frage aber letztendlich offengelassen.

Das schließlich im Grundgesetz verankerte Widerstandsrecht richtet sich sowohl gegen den Inhaber der staatlichen Gewalt als auch gegen eine Revolution von unten. Da es reicht, daß die Beseitigung der Verfassungsordnung unternommen wird, besteht das Widerstandsrecht bereits beim Versuch der Beseitigung, nicht aber bei reinen Vorbereitungshandlungen.

Ist die verfassungsmäßige Ordnung dagegen bereits beseitigt, hat naturgemäß auch Artikel 20 Absatz 4 keine Bedeutung mehr. Jemand, der die verfassungsmäßige Ordnung beseitigt, gewährt kein Widerstandsrecht. Hier würde dann wieder das vom Bundesverfassungsgericht in Erwägung gezogene ungeschriebene Widerstandsrecht Geltung haben. Das in Artikel 20 festgeschriebene Widerstandsrecht kann also nur bei Versuchen der Beseitigung der Verfassungsordnung praktische Bedeutung bekommen. Das Widerstandsrecht des Grundgesetzes besteht nur dann, wenn versucht wird, die tragenden Prinzipien der verfassungsmäßigen Ordnung als Ganzes zu beseitigen, nicht schon, wenn nur einzelne Bestimmungen verletzt sind. Eine Beseitigung liegt jedenfalls bei kurzfristigen und vereinzelten Verletzungen der in Artikel 20 normierten Prinzipien noch nicht vor.

Eine weitere Voraussetzung für das Widerstandsrecht ist, daß keine andere Abhilfe gegen den Versuch der Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung möglich ist, wobei der Fall, daß staatliche Stellen zur Abhilfe zwar in der Lage, aber nicht bereit sind, dem gleichzustellen ist. Solange also die Entscheidungskompetenz der Gerichte gewahrt und durchsetzbar bleibt und vom Verfassungsgericht auch wahrgenommen wird, besteht kein Widerstandsrecht. Wenn aber die Voraussetzungen für das Widerstandsrecht gegeben sind, dann sind beliebige Formen des Widerstands möglich, auch wenn sie nicht dem geltenden Recht entsprechen. Auch die Anwendung notwendiger Gewalt bliebe straffrei.

Das Widerstandsrecht des Artikels 20 Absatz 4 ist bei Staatsrechtlern nicht unumstritten. Kritiker wenden ein, daß hier etwas geregelt wird, was nicht zu regeln ist. Denn wenn der Staatsstreich mißlingt, werden die, die Widerstand geleistet haben, ohnehin gefeiert; wenn er gelingt, kann sich auch niemand mehr auf Artikel 20 Absatz 4 berufen.

Der Staatsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider beruft sich in seinen Verfassungsbeschwerden gegen die Übertragung von Kompetenzen der Bundesrepublik Deutschland auf die Europäische Union immer wieder auf das Widerstandsrecht des Artikels 20 Absatz 4, so auch in seiner jüngsten Verfassungsbeschwerde von Ende Juni gegen den ESM. Er argumentiert zwar vor allem mit dem Widerstandsrecht des Artikels 20 Absatz 4, um die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde zu begründen. Danach mache die EuroRettungspolitik Deutschland zu einem Gliedstaat eines Unionsbundesstaates und hebe die Hoheit der Deutschen im eigenen Land auf. Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Rechtsakte „beseitigen weitgehend die Verfassungsordnung Deutschlands, nicht anders als die anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union, und schaffen damit die Widerstandslage des Art. 20 Abs. 4 GG. Dem muß das Bundesverfassungsgericht als andere Abhilfe Einhalt gebieten“, argumentiert Schachtschneider.

Auf Schachtschneiders Argumentation mit dem Widerstandsrecht ist das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 30. Juni 2009 zum Lissabon-Vertrag kaum eingegangen. Eine Verletzung von Artikel 20 Absatz 4 könne danach nicht in einem Verfahren gerügt werden, in dem gegen die behauptete Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung gerade gerichtliche Abhilfe gesucht wird. In späteren Entscheidungen ging es auf das Widerstandsrecht gar nicht mehr ein. Schachtschneider bezeichnet mittlerweile das Bundesverfassungsgericht als ein „Parteiengericht, das den Parteienstaat gegen die Bürger genannten Untertanen verteidigt“. Konsequent weitergedacht würde dies nach Schachtschneiders Argumentation bedeuten, daß bereits jetzt soviel Souveränität nach Brüssel übertragen wurde, daß die verfassungsmäßige Ordnung bereits beseitigt ist. Dann läge schon jetzt das Widerstandsrecht vor, da ja das Bundesverfassungsgericht den Lissabon-Vertrag hat passieren lassen und sich als „Parteigericht“ entpuppt hatte, das keine Abhilfe mehr schafft.

Foto: Widerstand der Straße mit dem Segen des Grundgesetzes: Wenn Abhilfe anders nicht möglich ist

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