© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/12 13. Juli 2012

„Ich kann da nur staunen“
War der 20. Juli Verrat? Bis heute erscheinen Bücher, die das nachzuweisen versuchen. Was ist dran an den Vorwürfen und warum schwelt diese eigentlich längst erledigte Debatte weiter? Georg Meyer, ehemals Historiker am Militärgeschichtlichen Forschungsamt, antwortet.
Moritz Schwarz

Herr Dr. Meyer, heute wird die Frage, ob der 20. Juli Verrat war, öffentlich nicht mehr gestellt. Ist sie tatsächlich so abwegig, daß man sie nicht mehr aufwerfen kann?

Meyer: Keineswegs, die Männer des 20. Juli haben nächtelang über diese Frage diskutiert und sich zum Teil selbst für Verräter gehalten. Graf Hardenberg etwa hat das ganz deutlich in seiner Denkschrift vom Silvester 1945 zu Papier gebracht. Henning von Tresckow sprach davon, daß wer in ihren Kreis trete, das „Nessoshemd“ übergezogen habe, sprich den Makel des Verrats trage. Und Stauffenberg mahnte, man müsse sich bewußt sein, daß man „als Verräter in die deutsche Geschichte eingehen“ werde.

Dann war der 20. Juli 1944 also Verrat?

Meyer: Gegenfrage: Was ist „Verrat im 20. Jahrhundert“, um an den Titel der vierbändigen Untersuchung von Margret Boveri zu erinnern.

Was wollen Sie damit sagen?

Meyer: Frau Boveri kam in ihrem klugen Buch zu dem Schluß, daß die Grenzen zwischen Landes- und Hochverrat in diesem Jahrhundert „zwischen Massenmord und Massenwahn“ – wie der ehemalige Major und Widerstandskämpfer Axel von dem Bussche das 20. Jahrhundert nannte – fließend sind.

Warum das?

Meyer: Weil im 20. Jahrhundert der Krieg der Weltanschauungen den klassischen Krieg der Nationen, wie wir ihn im 19. Jahrhundert noch hatten, immer mehr überlagerte. War zum Beispiel der Angriff auf die Sowjetunion 1941 nun ein Krieg zwischen den Nationalstaaten Deutschland und Rußland oder eher zwischen Nationalsozialismus und der kommunistischen Sowjetunion?

Warum ist diese Frage wichtig?

Meyer: Weil man Verrat klassischerweise in Landesverrat und Hochverrat unterteilt. Hochverrat sind Bestrebungen zum Sturz eines herrschenden Regimes, während Landesverrat ein Verrat zum Nachteil des eigenen Landes ist, also etwa die Weitergabe geheimer militärischer Informationen. Im Zeitalter der Ideologien aber war eben dies nicht mehr so klar zu trennen – was auch immer die Juristen dazu anmerken mögen. Wenn allerdings die Männer des 20. Juli von „Verrat“ sprachen, dann meinten sie persönlich damit den Hochverrat gegen Hitler und seine Satrapen, die ihrerseits Deutschland längst verraten hatten. Landesverrat zum Nachteil des Deutschen Reiches und seiner Armee dagegen lehnten die meisten strikt ab.

Zum Beispiel?

Meyer: Zum Beispiel der schon genannte überlebende Widerständler Axel von dem Bussche – übrigens als Frontoffizier mit dem Ritterkreuz dekoriert –, der bis zu seinem Tode 1993 stolz darauf war, als Hochverräter angesehen zu werden. Billigen Landesverrat lehnte er dagegen rundweg ab, wie auch – ebenso wie Stauffenberg – „Widerstand hinter Stacheldraht“. Damit gemeint war das „Nationalkomitee Freies Deutschland“, ein Zusammenschluß von deutschen Offizieren, die sich in sowjetischer Kriegsgefangenschaft hatten „umdrehen“ lassen und Propaganda im Dienste Moskaus machten.

Es gab dennoch Fälle von Landesverrat. Was haben diese mit dem 20. Juli zu tun?

Meyer: Gar nichts. Denn „den“ Widerstand gab es nicht. Jedenfalls handelte es sich nicht um einen Zusammenschluß nach dem deutschen Vereinsrecht mit Statuten, Versammlungsprotokollen, geordneter Kassenführung und so weiter. Der bekannteste Fall von Landesverrat ist wohl der des Obersts der Abwehr Hans Oster, der die Angriffstermine der Wehrmacht auf Belgien und Holland verriet. Andere Beispiele wären der Konsulatsbeamte im Auswärtigen Amt Fritz Kolbe, dem ob seines Entschlußes, den amerikanischen Geheimdienst OSS mit wertvollen Informationen zu versorgen, nach dem Krieg ganz zu Unrecht der Makel des Verräters angeheftet worden ist. Oder die in der Spionage-Literatur schon beinahe legendäre „Oslo-Person“ – das war Hans Ferdinand Mayer aus dem Siemens-Konzern, ein „Wissenschaftsspion“ hohen Ranges, der den Briten technische Entwicklungen auf deutscher Seite prognostizierte, die tatsächlich auch im Laufe des Krieges zur Ausführung gelangten. Beide waren Verräter – allerdings nur nach dem Buchstaben des Gesetzes –, und beide hatten keine Illusionen über die möglichen Konsequenzen ihres Handelns.

Für Sie sind sie moralisch keine Verräter?

Meyer: Beim Landesverrat mache ich einen klaren Unterschied. Spionage etwa gegen Bezahlung oder aus niederen Beweggründen ist verächtlich und strafwürdig. Der ethisch begründete Landesverrat dagegen, also etwa um einen Krieg zu verhindern, verdient im Falle des Widerstands gegen Hitler nach meiner Meinung und nach gründlicher Prüfung unseren Respekt.

Was hätte Stauffenberg dazu gesagt?

Meyer: Das ist natürlich Spekulation, aber damals wäre er ob so einer Haltung wohl vermutlich senkrecht durch die Decke gegangen.

Wenn all diese Fälle nichts mit dem 20. Juli zu tun haben, wieso erscheinen dann bis heute Bücher, wie etwa jüngst „Verrat an der Ostfront“ (JF 25/12), die eben Zusammenhänge solcher Art unterstellen?

Meyer: Offenbar finden diese kontrafaktischen Darstellungen, manchmal sogar pfiffig und wirkungsvoll geschrieben,  immer noch ihren Leserkreis. Allerdings nur noch in einer relativ hermetischen, sich selbst bestätigenden „Szene“.

Der Vorwurf dieser Bücher lautet, erst die Sabotage des Widerstands – etwa Unterbrechung des Munitionsnachschubs oder die angebliche Umleitung von Winterbekleidung für die Ostfront nach Nordafrika – habe den sonst sicheren Sieg verhindert.

Meyer: Diese Behauptung, die Verschwörer seien der kämpfenden Front durch Verrat und Sabotage in den Rücken gefallen, ist besonders infam. Sie verschweigt nämlich gerade eines der hauptsächlichen, in allen vorbereiteten Aufrufen für die Stunde danach zu erkennende Motive der Widerständler: Stauffenberg, Tresckow und alle ihre Kameraden und Gesinnungsfreunde, auch viele auf der zivilen Seite, waren geradezu besessen vom 1918/19-Syndrom, wie ich es nennen möchte. Denn damals 1918/19, also am Ende des Ersten Weltkrieges, war die Legende vom „Dolchstoß“, also dem Verrat in der Heimat entstanden, der erst das bis dato „im Felde unbesiegte“ deutsche Heer zur Kapitulation gezwungen habe. Somit – folgerten die Männer des 20. Juli – dürfte nun gar nicht erst der Anschein eines Dolchstoßes erweckt werden. Sie beharrten darauf, daß gerade in dem beabsichtigten Umsturz die Front halten müßte. In der Hoffnung, daß die neu einzurichtende Führung für etwaige Verhandlungen politisch handlungsfähig bliebe, trotz der alliierten Forderung einer bedingungslosen Kapitulation. Man könnte auch sagen, daß der Krieg nicht mehr zu gewinnen war, war ihnen klar, verlieren wollten sie ihn aber auch nicht.

Vor allem richten sich die Vorwürfe gerne gegen Hans Speidel, 1944 Stabschef Rommels in Frankreich, der versuchte, diesen für den 20. Juli zu gewinnen, und dem unterstellt wird, zudem die deutsche Kriegsführung in der Normandie sabotiert zu haben.

Meyer: Die im Anspruch auf eine solide, aber sehr einseitig interpretierte Quellenlage gegen General Speidel erhobenen Vorwürfe entbehren beim näheren Hinsehen jeglicher Grundlage und sind ebenfalls in den Kategorien Landes- und Hochverrat mit dem Buchstaben des Gesetzes nicht zu fassen. Im Rahmen meiner langjährigen wissenschaftlichen Tätigkeit sind mir zu diesem Komplex einige Details gesprächsweise bekannt geworden, ohne daß ich jedoch Gelegenheit gehabt hätte, sie zu verifizieren oder zu falsifizieren. Nur soviel: Möglicherweise gab es bei der Westgruppe der Verschwörung, wie ich sie nennen möchte, und der wohl sogar der Feldmarschall von Kluge zuzurechnen wäre, Überlegungen in Richtung auf eine Teilkapitulation. Vor allem nach dem Zerwürfnis der Feldmarschälle von Rundstedt und Rommel mit Hitler am 17. Juni 1944 in Margival in Anwesenheit Speidels. Danach ging es, soviel wir vermuten können, um die Möglichkeit einer Teilkapitulation an der Invasionsfront – wie sie übrigens unter anderen Umständen später bei Kriegsende in Oberitalien zustande kam – und der auch einige höhere Waffen-SS-Führer nicht abgeneigt zu sein schienen.

Teilkapitulation, also doch Landesverrat?

Meyer: Na ja, angesichts der Kriegslage zu dieser Zeit würde ich sagen: Verrat zugunsten des Reiches.

Inwiefern?

Meyer: Weil ein Sieg zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr möglich war, so aber der Tod zahlreicher deutscher Soldaten und Zivilisten sowie die Zerstörung vieler Städte durch Gefechte und alliierte Luftangriffe hätte verhindert werden können. Allerdings, selbst wenn es diese Überlegungen tatsächlich gegeben haben sollte, wurden sie obsolet nach dem Ausfall Rommels durch einen Tieffliegerangriff auf ihn am 17. Juli 1944.

Wenn es keine Quellenlage gibt, die der Erhebung des 20. Juli Landesverrat nachweisen kann, worauf fußen dann die in diesen Büchern aufgestellten Behauptungen? 

Meyer: Ich kann nur darüber staunen, daß ernsthafte, quellenmäßig belegte Forschungen etwa von Peter Hoffmann nichts gegen selbst abstruseste Vorurteile auszurichten vermögen, die sich inzwischen zu fundamentalistischen Glaubenssätzen verfestigt haben. Dabei bleiben diese Unbelehrbaren auf halbem Wege stehen, außer sie glauben an die Vorzüge eines siegreichen nationalsozialistischen Reiches. Erscheint den Leuten dieser Szene wirklich eine solche Konstruktion erstrebenswert? Dann sind sie beklagenswerte Fälle für die Psychiatrie, ungeeignet für eine ernsthafte politische und wissenschaftliche Debatte.

Woher kommt diese „Szene“?

Meyer: Es handelt sich wohl um das Überbleibsel der politischen Kampagne gegen den 20. Juli der fünfziger und sechziger Jahre. Zentrales Ereignis diesbezüglich ist wohl der sogenannte „Remer-Prozeß“, dessen Urteil 1952 erging. Major Otto Ernst Remer befehligte am 20. Juli 1944 das Berliner Wachbataillon, das aufgrund der zunächst unklaren Befehlslage später eine Rolle bei der Niederschlagung des 20. Juli gespielt hat. Allerdings hat Remer sich selbst bis an sein Lebensende 1997 eine nicht den Tatsachen entsprechende Rolle bei der gewaltsamen Beendigung des Umsturzversuches bescheinigt. Und nach dem Krieg versuchte er seine Behauptung: „Die Verschwörer sind zum Teil in starkem Maße Landesverräter gewesen, die vom Ausland bezahlt wurden“, zu popularisieren. Deshalb wurde er schließlich wegen übler Nachrede in Tateinheit mit Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener zu einer Gefängnisstrafe von drei Monaten verurteilt.

Warum war der Prozeß so wichtig?

Meyer: Weil – und daher war auch das Strafmaß unerheblich – damit vor Gericht in einem ordentlichen Verfahren ein für alle Male die verbreitete Diffamierung der Verschwörung widerlegt wurde, die im 20. Juli gipfelte.

Haben Sie Verständnis, daß vor allem ehemalige Frontsoldaten bis heute in ihrer Position vom „Verrat“ verharren?

Meyer: Wer sich heute noch mit dem Vorwurf des Verrats oder des Eidbruchs contra 20. Juli ereifert, dem ist eigentlich nicht mehr zu raten oder zu helfen.

Vielleicht ist die Sicht auf den 20. Juli auch eine Generationenfrage. Wäre dann dies vielleicht nicht ein zu hartes Urteil?

Meyer: Diese bittere Schlacht ist, wenn auch mit Blessuren auf beiden Seiten, in den frühen fünfziger und sechziger Jahren geschlagen worden, man hat nun längst seinen Frieden mit diesem außergewöhnlichen Ereignis gemacht. Die heißen Debatten darüber in den Offizierskasinos der Bundeswehr sind abgeklungen. Wer heute noch den Verschwörern Ehre und Ansehen abspricht, muß sich mangelnde Einsichtsfähigkeit vorwerfen lassen und daß er weit hinter den Status disputationis der fünfziger Jahre zurückfällt. Es sei an das Beispiel eines älteren Obersten der Gebirgstruppe erinnert, der, wie es damals in den Beurteilungsbögen formelhaft hieß, fest auf dem Boden des Nationalsozialismus stand und ihn nach außen überzeugend vertrat. Als ihm die Nachricht vom Attentat übermittelt wurde – sein Regiment stand in Italien in schweren Abwehrkämpfen –, war er empört, wie viele Frontsoldaten. Als er dann den Namen des Obersten im Generalstab Claus Schenk Graf von Stauffenberg als eines Hauptbeteiligten hörte, war er sogleich überzeugt und machte kein Geheimnis daraus, daß sein Jahrgangskamerad nur von ehrenhaften und achtenswerten Motiven geleitet gewesen sein konnte. Der Personalgutachterausschuß für die Streitkräfte hat diesen Träger des nationalsozialistischen Ehrenzeichens „Blutorden der Bewegung“ als für die Einstellung in die Bundeswehr geeignet erklärt, und er hat der Bundesrepublik Deutschland vorbehaltlos und treu gedient.

 

Dr. Georg Meyer, der Historiker und ehemalige Wissenschaftliche Direktor im Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) der Bundeswehr in Freiburg im Breisgau verfaßte unter anderem für den Begleitband zur MGFA-Wanderausstellung von 1994 „Aufstand des Gewissens“ über den deutschen Widerstand gegen Hitler den Beitrag: „Auswirkungen des 20. Juli 1944 auf das innere Gefüge der Wehrmacht bis Kriegsende und auf das soldatische Selbstverständnis im Vorfeld des westdeutschen Verteidigungsbeitrages bis 1950/51“. Er war außerdem Mitarbeiter an der vierbändigen Reihe „Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik“ und hat sich in seiner langjährigen Tätigkeit im MGFA vor allem mit der Vorgeschichte und Frühphase der Bundeswehr beschäftigt. 2001 erschien seine Biographie des ersten Generalinspekteurs der Bundeswehr und ehemaligen Generals der Wehrmacht, der von der Erhebung wußte und dennoch am 20. Juli von Stauffenbergs Bombe selbst schwer verletzt wurde: „Adolf Heusinger. Dienst eines deutschen Soldaten 1915 bis 1964“ Geboren wurde Meyer 1937 in Halberstadt.

Foto: Otto Ernst Remer (l.) mit Anhängern (1952): „Die Verschwörer waren zum Teil in starkem Maße Landesverräter, vom Ausland bezahlt“ (Remer)

 

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