© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/12 06. Juli 2012

Abschied von der Verbrennungstechnik
Konkrete Utopie der Zukunft: Mobilität in einer erneuerbaren Energiewelt / Ambitionierte Zielsetzungen
Christoph Keller

Seit 2002 hat sich die Zahl der Automobile weltweit beinahe verdoppelt: von 550 Millionen auf eine Milliarde. Und der Aufwärtstrend ist ungebrochen. Höchste Zeit also, wie Weert Canzler (Universitas 792/12) mahnt, um sich Gedanken über Alternativen und damit über eine Zukunft „jenseits der Dominanz des Autos“ nachzudenken.

Canzler, am Berliner Wissenschaftszentrum lange mit Forschungen zur „Mobilität in einer erneuerbaren Energiewelt“ befaßt, knüpft an großspurige EU-Planungen an, die bis 2050 alle Verkehrsträger im Personenverkehr auf regenerative Energien umstellen wollen. Der Privatwagen sollte dann nur noch Liebhaberobjekt sein. Das sei eine sehr konkrete Utopie, wie Canzler prognostiziert. Denn gleich dreifacher Problemdruck erzwinge den Abschied von der Autogesellschaft: Zum einen verschärfen die Automobilflotten der Schwellenländer die Nachfragesituation auf dem Ölmarkt. Da ein Fünftel der Treibhausgase auf das Konto des Individualverkehrs gehen und Optimierungen der konventionellen Antriebstechnik keine Entlastungseffekte zeitigen, diktieren bevorstehende Ölverknappung und Klimawandel die „Abkehr von der Verbrennungstechnik“.

Zweitens besitzt derzeit ein Drittel der Deutschen ein internetfähiges Multimediatelefon, so daß hier ein „technischer Treiber“ für die Integration von Verkehrsangeboten (Leih-Pkw, Personennahverkehr, Fernbahn) Mobilität ohne eigenes Auto garantiert. Und schließlich bringe die Energiewende den Einstieg in die dezentrale Stromerzeugung, die Überhangkapazitäten an Batterien von E-Fahrzeugen abgeben könne.

Die technischen, logistischen und energetischen Konturen des postautomobilen Zeitalters zeichnen sich mithin heute bereits deutlich ab, und sie werden in dem Maße den Alltag bestimmen wie die Kalamitäten der ölbasierten Wirtschaft dies erzwingen. Verzögert oder behindert werden könnte die „vernetzte grüne Mobilität“ nur durch die Verbrauchermentalität. Es fehle noch der „emotionale Kick“, da die Utopie vielen zu vernünftig, „zu wenig spannend“ erscheine. Dies bestätigt auch der Dritte Fortschrittsbericht der Nationalen Plattform Elektromobilität. Deutschland könne zwar Leitmarkt für Elektromobilität werden, aber „eine zentrale Voraussetzung dafür ist, daß die breite Öffentlichkeit und potentielle Kunden das ‘System Elektromobilität’ verstehen und annehmen“. Die politische Zielsetzung „eine Million Elektroautos bis 2020“ sei „nach wie vor ambitioniert“.

Immerhin stimmen „kulturelle Minibewegungen und sich etablierende Nischenmärkte Canzler opitimistisch: Das Car-Sharing (die gemeinschaftliche Bezahlung und Benutzung von Autos) komme langsam in Mode, der private Autoverkehr verliere in Großstädten wie Paris, München oder Tel Aviv Anteile an andere Verkehrsmittel, und in fast allen metropolitanen Regionen der OECD-Welt stiegen die „Fahrradanteile“.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen