© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/12 06. Juli 2012

Onkel Toms Hütte in preußischer Sahara
Frido Mann erkundet die Kurische Nehrung und analysiert Litauens Suizidrate
Uwe Fritzsche

Nach mehreren vergeblichen Einladungen konnte Ludwig Goldstein, Feuilletonist der Königsberger Hartungschen Zeitung, Ende Juli 1929 endlich Thomas Mann zu einer Vorlesung am Pregel begrüßen. Goldstein, verwandt mit der Großmutter Romy Schneiders, erwartete nach 1933 in seiner Vaterstadt das Schicksal der sozial isolierten „Halbjuden“, aber im Sommer 1929 stand er auf der Höhe seines Ansehens als „Kultursenator“ Königsbergs, dem es glückte, den Buddenbrooks-Autor für Ostpreußen so zu begeistern, daß noch während der im nahen Ostseebad Rauschen verbrachten Augustwochen dessen Plan reifte, ein Ferienhaus am baltischen Meer zu erwerben.

Ein knappes halbes Jahr später, am 12. November 1929, erhielt Thomas Mann den Nobelpreis für Literatur. Das Preisgeld diente umgehend der Verwirklichung des Haustraums. Und zwar in Nidden auf der Kurischen Nehrung. Der „Zauberer“ hatte den Bade- und Fischerort während eines Abstechers von Rauschen aus kennengelernt. Kontakte waren daher bereits geknüpft, so daß „Onkel Toms Hütte“, wie das Haus bald hieß, im Frühjahr 1930 rasch errichtet wurde und die Familie das erste ihrer drei Strandidyllen inmitten der „preußischen Sahara“ verlebte, deren nördliche Hälfte, mit Nidden und Schwarzort, zwischen 1923 und 1939 als Teil des Memellandes von Litauen annektiert worden war. Hier schrieb Mann an seinem Epos „Joseph und seine Brüder“, und von Nidden aus versuchte er regelmäßig, der ihrem Untergang entgegen taumelnden Weimarer Demokratie publizistischen Feuerschutz zu geben. Ein Engagement, das man ihm im Bürgerkriegs-Sommer 1932 mit einem als Warnung zugesandten verkohlten Exemplar der „Buddenbrooks“ quittierte.

Heute ist das schon in sowjet-litauischer Zeit wieder hergerichtete Haus auf dem Niddener „Schwiegermutterberg“ ein vielbesuchtes Kulturzentrum, das sich neben den Thomas-Mann-Stätten in Lübeck und Zürich als dritter literarischer „Erinnerungsort“ international etabliert hat. Seit dem Zerfall des Sowjetimperiums ist es auch Anlaufpunkt für den 1940 in Kalifornien geborenen Enkel des Dichters, den „lieben Knaben Frido“, den jeder Leser der süchtig machenden „Tagebücher“ des Meisters kennt. Frido Mann, Psychiater und Schriftsteller, ist seit 1997 häufiger Gast auf der Nehrung, reiste zu Vorträgen, Ausstellungen und Konzerten an, lernte Land und Leute kennen. Diese über viele Jahre empfangenen Impressionen füllen nun sein Bändchen „Mein Nidden“.

Frido Mann geht darin noch einmal auf die inzwischen gut erforschte Geschichte des Hauses ein, auf die Niddener Biographie seiner Großeltern, auf die Vergangenheit der Nehrung und den kulturellen Hintergrund des Fischerdorfes, das sich vor 1914 als „nordisches Worpswede“ zu einer Künstlerkolonie mauserte. Dazu teilt er freilich nicht viel Neues mit, und der regionalhistorische Kenner darf sogar über manche Schiefheit schmunzeln. Größere Aufmerksamkeit widmet Mann jedoch der litauischen Gegenwart, in die eintritt, wer Europas höchste Sanddünen besteigen möchte.

Dabei erlebt der Leser dieser locker komponierten Strandlektüre ein Litauen der zwei Geschwindigkeiten. Hier die dank touristischer Anziehungskraft, zu der das Thomas-Mann-Haus viel beiträgt, wohlhabend gewordene Bevölkerung der Nehrung, dort die auch nach dem EU-Beitritt wirtschaftlich nicht in die Hufe gekommenen „Festländer“, die lediglich bei der Selbstmordrate einen europäischen Spitzenplatz behaupten. Die ausgeprägten litauischen Suizidneigungen diagnostiziert der Psychiater Mann als kollektives seelische Leiden, als sozialpsychologische Nachwirkung eines endlosen Elends unter Moskaus Knute.

Zusammen mit Hinweisen auf sinkende Geburtenzahlen des Drei-Millionen-Volkes, die Landflucht und das unter jungen Litauern grassierende Auswanderungsfieber, gelingt Frido Mann beinahe ein baltischer Appendix zu „Deutschland schafft sich ab“. Als Ursache des „Suizid-Debakels“ macht er nicht die Armut aus, die sich mit der Wirtschaftskrise rapide ausweitet. Vielmehr seien für „Osteuropas Trauer“, und diese Analyse ist für einen bekennenden Kosmopoliten immerhin bemerkenswert, fünfzig Jahre Fremdherrschaft verantwortlich, die zu einem erzwungenen falschen Leben, zu einem manifesten Gefühl der Entwurzelung und der Hilflosigkeit führte, das „nach wie vor weit verbreitet“ sei und dem sich nicht nur in Litauen mit einer Rückbesinnung auf nationale Identität begegnen lasse.

Frido Mann: Mein Nidden. Auf der Kurischen Nehrung. Mare Verlag, Hamburg 2012, gebunden, 159 Seiten, 18 Euro

Foto: Lovis Corinth, Kirchhof in Nidden, Öl auf Leinwand 1893: Manifestes Gefühl der Entwurzelung

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