© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/12 06. Juli 2012

Geborenen Führern folgen
Edgar Feuchtwangers Biographie des konservativen britischen Premiers Benjamin Disraeli
Karlheinz Weissmann

Wozu eine weitere Biographie über Benjamin Disraeli? Stehen sensationelle Entdeckungen zu erwarten? Nein. Gibt es Zweifel an der Bedeutung Disraelis? Sicher nicht. Steht eine Renaissance seiner Weltanschauung bevor? Kaum. Angesichts dieses Befunds könnte man sich mit dem Vorhandenen zufriedengeben, vor allem der großen Darstellung von Robert Blake (Disraeli, London 1967; deutsche Fassung Frankfurt a. M. 1980). Blake, der Historiker der britischen Tories, hat allerdings eine fast überbreite Lebensbeschreibung vorgelegt, und es fehlte ihm an Unbekümmertheit. Das hängt vor allem mit Disraelis jüdischer Herkunft zusammen und dem Bedürfnis, so wenig Anstoß wie möglich zu erregen.

Von solcher Sorge ist der Historiker Edgar Feuchtwanger, Sohn des Verlegers Ludwig und Neffe des Schriftstellers Lion Feuchtwanger, aufgrund der eigenen „Jüdischkeit“, wie er es schön altertümlich nennt, frei. Man kann sogar sagen, daß Feuchtwanger das, was Disraeli selbst mit Aplomb seine „Rasse“ nannte, zum Angelpunkt für die Deutung mindestens der Anfänge macht. Benjamin Disraeli, 1804 geboren, war der Sohn eines angesehenen und leidlich vermögenden Schriftstellers, der sich von der religiösen Überlieferung seiner sephardischen Vorfahren losgesagt hatte, nur seine Kinder taufen ließ, während er selbst offenbar der Idee einer Vernunftreligion anhing und eine Konversion für überflüssig hielt.

Der junge Disraeli hat die väterlichen Vorstellungen ganz und gar nicht geteilt, sich aber auch nicht wieder dem jüdischen Glauben zugewandt, sondern eine höchst eigenwillige Metaphysik entwickelt, in deren Zentrum neben der entschlossenen Verteidigung der anglikanischen Kirche auch die Lehre von zwei auserwählten Völkern stand: Juden und Angelsachsen.

Eine derartige Konzeption war natürlich nicht zu erklären ohne den Einfluß der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts umlaufenden romantischen Anschauungen, in denen weiter Disraelis sehnsüchtige Verehrung der britischen Aristokratie wurzelte. Nach menschlichem Ermessen hatte diese Sehnsucht keine Aussicht auf Erfüllung: Disraeli besaß weder die richtige Herkunft noch die richtige Ausbildung und auch nicht das notwendige Geld. Was er besaß, war ein extrem ausgeprägtes Selbstbewußtsein und weit überdurchschnittliche Intelligenz. Voraussetzungen, die es ihm erlaubten, das Leben eines Dandys zu führen, stets verschuldet, zu keiner geregelten Tätigkeit willens, stets auf der Jagd nach dem schnellen Geld, ein begabter, aber flüchtiger Romanautor und ein politischer Kopf mit napoleonischem Ehrgeiz, den er unter den Bedingungen des parlamentarischen Systems in England kaum befriedigen konnte. Disraelis große Chance kam erst mit der Krise der konservativen Partei, die sich im Widerstand gegen die liberalen Reformen verbraucht hatte und zwischen der Nostalgie für das ländliche „old England“ und der Funktion als Klientelpartei hin und her schwankte.

Wenn die Granden der Tories letztlich ihr Schicksal einem Mann wie ihm überantworteten, dann deshalb, weil sie keinen anderen Ausweg sahen. Und entgegen der naheliegenden Sorge, man liefere sich einem verantwortungslosen Schaumschläger aus, war Disraeli der Mann, der die konservative Partei erneuerte, indem er sie in die „Nationalpartei“ verwandelte. Er sorgte dafür, daß die Konservativen ihren Frieden schlossen mit den Veränderungen, die die Liberalen herbeigeführt hatten, und nahm den Whigs gleichzeitig die Unterstützung der Massen, indem er das allgemeine Wahlrecht einführte. Seine Vorstellung von „Tory-Demokratie“ lief aber selbstverständlich nicht auf Egalität hinaus, sondern auf eine Idee des organischen Staates, in dem die einfachen Leute den geborenen Führern folgten.

Das war der eine Schritt, die Spaltung in „zwei Nationen“ zu heilen, der andere die Schaffung des Empire, weniger als rationales Projekt politischer Machterweiterung, sondern als eine Vision, die es erlaubte, die kollektive Phantasie zu entzünden. Deshalb war auch die Schaffung eines indischen „Kaisertums“ nicht der notwendige Abschluß der langfristigen Durchdringung des Subkontinents, eher ein chevaleresker Akt, mit dem Disraeli Königin Victoria seine Vasallentreue beweisen konnte.

Disraeli eine schillernde Persönlichkeit zu nennen, ist eine Untertreibung. Man darf sicher auch nicht verkennen, daß er sein eigentliches politisches Ziel – das Amt des Premierministers – erst spät, das heißt im Alter von siebzig Jahren, sieben Jahre vor seinem Tod, erreichte. Trotzdem wird man ihn als Zentralfigur der viktorianischen Epoche betrachten müssen. Wer dagegen einwenden will, daß sein Ethos alles andere als „viktorianisch“ war, den weist Feuchtwanger auch darauf hin, daß sich die von Disraeli so sehr bewunderte Oberschicht niemals „Krämertugenden“ unterwarf. Man nehme das als einen letzten Hinweis darauf, daß selbst der, der sich mit Person und Politik Disraelis schon beschäftigt hat, in Feuchtwangers Werk neue Facetten entdecken wird, in jedem Fall eine konzise Darstellung eines der interessantesten modernen Konservativen.

Edgar Feuchtwanger: Disraeli. Eine politische Biographie. Duncker & Humblot, Berlin 2012, broschiert, 235 Seiten, 28 Euro

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