© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/12 06. Juli 2012

Sieben Jahre in Tibet
Ein deutscher Bergsteiger als Privatlehrer des Dalai Lama: Vor 100 Jahren wurde Heinrich Harrer geboren
Baal Müller

Heute, da die letzten weißen Flecken von der Landkarte getilgt sind, erscheint die Biographie des Bergsteigers und Forschungsreisenden Heinrich Harrer wie ein Zeugnis aus einer vergangenen Epoche. Ihre besondere Faszination aber besteht nicht nur in ihrer Abenteuerlichkeit, sondern auch in ihrer Verwobenheit mit dem Schicksal einer Kultur, die man als „letzte antike Hochkultur“ ansehen kann.

Die Herkunft des späteren Privatlehrers des Dalai Lama ist unscheinbar: Am 6. Juli 1912 wurde er als Sohn eines Postbeamten in der Kärntner Gemeinde Hüttenberg geboren. Allenfalls die alpine Heimat und der Ehrgeiz des Geographie- und Sportstudenten, der es zum akademischen Abfahrtsweltmeister, österreichischen Golfmeister und Trainer der Damenski-Nationalmannschaft brachte, weisen auf spätere Lebensstationen voraus.

1938 gelang ihm durch die Erstbesteigung der Eigernordwand eine sportliche Sensation, und er wurde nun, nachdem er bereits 1933 der SA beigetreten war, auch Mitglied der NSDAP sowie der SS. Sein enormer Erfolg sowie seine geschickte Karriereplanung führten dazu, daß er im folgenden Jahr an einer Expedition der Deutschen Himalaya-Stiftung zum Nanga Parbat teilnehmen durfte. Auf der Rückreise überraschte ihn in Karatschi der Kriegsausbruch: Harrer wurde von den britischen Behörden festgehalten und zunächst in einem Lager bei Bombay, später am Fuße des Himalaya interniert.

Nach mehreren erfolglosen Fluchtversuchen gelang ihm am 29. April 1944 mit sechs Mitgefangenen, die bald jedoch verschiedene Wege gingen, der Ausbruch. Gemeinsam mit Peter Aufschnaiter, dem Geschäftsführer der Himalaya-Stiftung, floh er mit dem Ziel, sich bis nach Japan durchzuschlagen, in nächtlichen Gewaltmärschen Richtung Tibet. Nachdem sie dessen Grenze am 17. Mai auf einem 5300 Meter hohen Paß überschritten hatten, mußten sie allerdings die Erfahrung machen, daß für westliche Ausländer strenge Einreisebedingungen galten.

Tibet, das seit dem 18. Jahrhundert von China abhängig, seit der chinesischen Revolution 1911 aber de facto souverän war, suchte der Einkreisung durch Rußland, China und das britische Kolonialreich mit einer Isolationspolitik zu begegnen, die durch die Geographie des Landes, die eigentümliche Kultur des tibetischen Buddhismus und die „Buddhokratie“ der Klöster – vor allem der Gelug-Schule, aus der die Dalai Lamas hervorgehen – begünstigt wurde.

Immerhin erhielten die Flüchtlinge eine Aufenthaltsgenehmigung, sollten aber schnellstmöglich nach Indien zurückkehren. Aus Furcht vor erneuter Lagerhaft flohen sie jedoch weiter ins Landesinnere: Rund 2.100 Kilometer legten sie, in zerschlissene Felle gewickelt, über endlose Schneeflächen und vereiste Gebirgspässe zurück, machten, neben bürokratischen Beamten, auch die Bekanntschaft räuberischer Nomaden und gastfreundlicher Hirten und erreichten endlich am 15. Januar 1946 die tibetische Hauptstadt.

Mit viel Glück wurden sie in ein aristokratisches Haus aufgenommen und dort freundschaftlich umsorgt. Bald sind die bärtigen Fremden das Stadtgespräch von Lhasa, und die Behörden kommen auf die Idee, die beiden Europäer, von deren technischen Fähigkeiten man sagenhafte Vorstellungen hat, für alle möglichen Dienste einzuspannen: Sie erstellen den ersten Stadtplan von Lhasa, und während Aufschnaiter zum Regierungsberater für Landwirtschaft und Städtebau aufsteigt, arbeitet Harrer als Übersetzer und Fotograf, erneuert einen Staudamm und wird schließlich Kameramann und „Filmemacher“.

Auch der vierzehnjährige „lebende Buddha“, der alles mit großem Wissensdurst aufnimmt, was die dicken Mauern seiner Paläste durchdringt, interessiert sich zunehmend für die Gäste und lädt Harrer zu einer Audienz, um sich von ihm sodann in Englisch, Geographie und Mathematik unterrichten zu lassen.

Es entwickelt sich ein herzliches Verhältnis, das auch die politischen Wirren der Folgezeit überdauern soll: Die chinesische „Volksbefreiungsarmee“ marschiert 1950 in Tibet ein, und der Dalai Lama zieht sich, von seinem Hofstaat und dem österreichischen Privatlehrer begleitet, ins indische Grenzgebiet zurück. 1959 muß er während des tibetischen Volksaufstandes im März erneut fliehen und begibt sich ins Exil nach Indien.

Harrer kehrte bereits 1952 nach Eu-ropa zurück und veröffentlichte seine Erinnerungen „Sieben Jahre in Tibet“, die in dreiundfünfzig Sprachen eine Auflage von mehr als vier Millionen Exemplaren erreichten; 1997 wurde der Bestseller von Jean-Jacques Annaud mit Brad Pitt in der Hauptrolle verfilmt.

Noch im hohen Alter führte Harrer fast jährlich Forschungsreisen durch, und von 1965 bis 1983 sendete die ARD die Fernsehserie Heinrich Harrer berichtet. Trotz immer wieder aufflackernder Kritik erinnert seit 1983 ein Museum in seinem Heimatdorf an den Ausnahmebergsteiger. Der Dalai Lama blieb Heinrich Harrer bis zu seinem Tod am 7. Januar 2006 freundschaftlich verbunden – zum Verdruß vieler Gutmenschen, denen die Unbekümmertheit des vermeintlichen Wellness-Gurus um gewisse Tabus der Politischen Korrektheit nicht einleuchtet.

Harrers Ruhm beruht sicher nicht nur auf der Außerordentlichkeit seiner Biographie, sondern auch darin, daß alle Abenteuerlichkeit zuletzt in Erfolg, Sicherheit und – fast möchte man sagen – Behaglichkeit mündet. Auch die Faszination des untergegangenen Tibet hat hierzu ihr Scherflein beigetragen. Während Harrer jedoch immer die Perspektive des interessierten europäischen Betrachters beibehielt, ist die Sicht späterer Sinnsucher oft vom Überdruß an der eigenen Kultur geprägt; sie werden vom Dalai Lama zuweilen ermahnt, lieber ihre eigenen Traditionen neu zu entdecken. Ebenso merkwürdig ist der Eifer, mit dem sich Menschen für die Unabhängigkeit Tibets einsetzen, denen die Freiheit ihres eigenen Volkes gleichgültig ist.

Am erstaunlichsten aber ist, daß die so lange abgeschottete tibetische Kultur gerade durch ihre Globalisierung gerettet werden konnte – wenn auch in reduzierten, oberflächlichen Formen. Heinrich Harrer hingegen kannte das alte Lhasa noch, als es die „Stadt der Götter“ war.

Foto: Hügelartige buddhistische Reliquie (Stupa) mit Gebetsfahnen in Tibet: Von der „letzten antiken Hochkultur“ geht eine Faszination aus

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