© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/12 06. Juli 2012

Historische Amnesie
Generation ohne Gedächtnis / Plädoyer für eine Renaissance des Geschichtsunterrichts an Schulen
Josef Kraus

Einmal mehr belegte eine Studie, daß das zeitgeschichtliche Wissen junger Leute katastrophal ist. Während jede Variante der Pisa-Studie hysterisch debattiert wird, obwohl Pisa nur „Kompetenzen“, aber kein konkretes Wissen testet, wird die aktuelle Studie der Freien Universität Berlin (FU) über die „Zeitgeschichtlichen Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen“ bald wieder Staub anlegen. Dabei sind die Ergebnisse dieser FU-Studie erschreckender als so manche Pisa-Rangreihe.

Befragt hatte man rund 4.600 Jugendliche nach deren Wissen und Einschätzung zu vier Epochen der jüngsten deutschen Geschichte: zum Nationalsozialismus, zur DDR, zur Bundesrepublik vor und nach der Wiedervereinigung. Nur ein Drittel der Fragen konnten die Jugendlichen richtig beantworten.

Zum Beispiel ist den allermeisten Schülern nicht präsent, daß die Bundesrepublik der Jahre 1949 bis 1989 ein freiheitlicher demokratischer Rechtsstaat war, ohne dessen Ausstrahlung es „1989/1990“ nicht gegeben hätte. Zudem fiel erneut auf, daß es ein erhebliches innerdeutsches Gefälle gibt. Bayerische Schüler schnitten am besten, Schüler aus Nordrhein-Westfalen am schlechtesten ab. Besonders erschreckend: Das höchst defizitäre Wissen schlägt sich auch im Urteilen nieder. Fast die Hälfte der Schüler kann nicht zwischen den Merkmalen von demokratischen und diktatorischen Systemen unterscheiden. Die Autoren der Studie stellen deshalb nicht zu Unrecht die Frage: „Später Sieg der Diktaturen?“

Die Arbeitsgruppe der Freien Universität um Professor Klaus Schroeder hatte übrigens bereits 2008 ähnliches zutage gefördert. Laut damaliger Studie („Soziales Paradies oder Stasi-Staat?“) ist das Wissen deutscher Schüler um die Zustände in der DDR höchst mangelhaft. Zum Beispiel: Mehr als die Hälfte der Schüler kennt das Jahr des Mauerbaus nicht. Nur jeder dritte weiß, daß die DDR die Mauer gebaut hat. Ebenfalls jeder dritte Schüler hält Konrad Adenauer und Willy Brandt für DDR-Politiker, und der Staatsratsvorsitzende und SED-Chef Erich Honecker ist angeblich demokratisch legitimiert gewesen.

Ein solcher historischer Analphabetismus droht sich zukünftig noch zu verschärfen, denn derzeit geistern die Forderungen nach „Entrümpelung der Lehrpläne“ und die Vorstellungen inhaltsleerer Kompetenzenpädagogik durch die Lande. Länder wie Hessen wollen aus ihren Geschichtslehrplänen zugunsten von „Kompetenzen“ alle konkreten Jahreszahlen, Epochenbegriffe, Namen und Ereignisse tilgen. Ein Geschichtsunterricht ohne Geschichte wird das.

Dahinter steckt Naivität – und Ideologie. Wenn deutsche Schüler wenig bis nichts über die jüngste deutsche Geschichte wissen, so reichen die Ursachen weit zurück. 1978 hatte die Kultusministerkonferenz (KMK) ihren Beschluß „Die Deutsche Frage im Unterricht“ gefaßt. Dort heißt es mit Blick auf alle Bildungseinrichtungen: „Das Bewußtsein von der deutschen Einheit und der Wille zur Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit ist wachzuhalten und zu entwickeln.“

Dieser Beschluß ist seinerzeit aus einer bestimmten Ecke heftig kritisiert worden. Es war die Rede von „Deutschtümelei“ und Schlimmerem. Zehn Jahre später – 1988 – galt es, erstmals Bilanz zu ziehen. Damaligen Untersuchungen zufolge war nur ein Viertel der Jugendlichen der Auffassung, daß beide Staaten in Deutschland eine Nation darstellten. 60 Prozent hatten keine Vorstellung vom Unterschied zwischen einem Volkskammer- und einem Bundestagsabgeordneten.

Damit rächte sich, daß der KMK-Beschluß von 1978 nur auf dem Papier existierte. Manchem sozialdemokratischen Kultusminister war damals die unterrichtliche Behandlung der Verletzungen von Menschenrechten in Südamerika und Südafrika wichtiger als die Einheit der Nation oder als Menschenrechtsverletzungen in der DDR. Hinzu kam: Nicht nur ein guter Teil der Medien, sondern auch viele Schulbücher zeichneten ein schöngefärbtes Bild der DDR und ein überkritisches der „BRD“.

Ende 1995, fünf Jahre nach der deutschen Einigung, hätten die Kultusminister erneut die Chance gehabt, sich als deutschlandpolitisch mündig zu erweisen. Die Kultusminister konnten sich aber nicht auf die Verabschiedung einer Empfehlung mit dem Titel „Darstellung Deutschlands im Unterricht“ verständigen. Flankiert war das Nichtzustandekommen eines KMK-Beschlusses von Äußerungen Reinhard Höppners, des damaligen PDS-geduldeten SPD- Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, daß die frühere DDR im Entwurf der Kultusministerkonferenz zu schlecht wegkomme. Geändert hat sich an solchen Haltungen nichts. 2009 fand es der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Erwin Sellering (SPD), falsch, die DDR als Unrechtsstaat zu betrachten.

Von daher ist es nachvollziehbar, daß manche Leute das Schulfach Geschichte gerne kleinhalten und inhaltlich entkernen möchten. Geschichte ist nämlich ein unbequemes Fach, weil es hilft, Ideologien zu zertrümmern und Legenden zu entzaubern. Deshalb möchte so mancher auf dem Wege eines seichten Geschichtsunterrichts doch lieber den „Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft“ (Hermann Lübbe).

Dagegen hilft nur eines: Stärkt endlich den Geschichtsunterricht mit mehr Unterrichtsstunden und mit konkreten, anspruchsvollen Inhalten!

 

Josef Kraus ist Autor des Buches „Bildung geht nur mit Anstrengung: Wie wir wieder eine Bildungsnation werden können“ (Classicus Verlag, Hamburg 2011). Er schrieb zuletzt in der JUNGEN FREIHEIT 23/11.

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