© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/12 29. Juni 2012

Das nächste Buch ist immer das wichtigste
Sprengung von Zeit- und Handlungsabläufen: Der Sprachartist und Fußball-Poet Ror Wolf wird achtzig
Felix Dirsch

Man kann trefflich darüber streiten, ob Außenseitertum im Kulturbetrieb als Vorteil betrachtet werden muß oder nicht. Relativ geringe Beachtung zu erfahren, führt leicht dazu, auf kokette Art literarischen Mißerfolg umzudeuten. Ist der Betreffende vielleicht so gut, daß er nur von kundigen Zirkeln verstanden wird? Ror (eigentlich: Richard) Wolf, bekannt auch unter dem Pseudonym Raoul Tranchirer, benötigt solche Ausflüchte nicht. Er hat schon vor drei Jahrzehnten die Bezeichnung „unterschätzter Autor“ ins Positive gewendet und dem Wettlauf um ausschließlich quantitative Erträge (sprich: Auflagen) den Kampf angesagt – zum Leidwesen seiner Verleger.

Der im thüringischen Saalfeld/Saale 1932 geborene, in den frühen fünfziger Jahren aus der DDR nach Westdeutschland übergesiedelte Wolf, zeitweise als Hilfsarbeiter tätig, kann in der Bundesrepublik studieren. Nach ersten Veröffentlichungen um 1960 erscheinen Mitte der sechziger Jahre zwei seiner wichtigsten Romane: „Fortsetzung des Berichts“ sowie die Abenteuerserie „Pilzer und Pelzer“, die zumindest in interessierten Kreisen Resonanz hervorrufen.

Der Leser ist vergnügt ob der geballten assoziativen Metaphorik, über das Gaukeln zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Sprachfülle, -phantastik und -komik schlagen ihm entgegen. Wolf at his best bedeutet (an einer charakteristischen Stelle in „Pilzer und Pelzer“ am Beginn des 25. Kapitels): „Ich habe von einem Wachsen gesprochen, es ist also so, daß etwas wächst, während ich schreibe und weiterschreibe, aus den Ritzen und Fugen heraus, aus den dunklen Fenstervertiefungen büschlig behaart aus den Wandleisten in Schleifen und Schlaufen, knackend aus den aufplatzenden Tapeten, fleischfarben unter den Brücken und Bodenbelägen hervor, rutenförmig dünn dornig hinter den Wandbehängen, aus den Falten und Säumen der Portieren …“. Derartige Sätze gehen zuweilen, ohne Punkt und mit nur wenigen Kommata, über zwei oder mehrere Seiten.

Die Pilzers und Pelzers stehen für die entindividualisierte bürgerliche Gesellschaft – eine kritische Sichtweise, die zeitbedingt kaum fehlen darf, will man als Schriftsteller reüssieren. Viele Publikationen aus verschiedenen Gattungen (Moritaten, Collagen, Gedichte, Hörspiele, Theaterinszenierungen, Filmdrehbücher, Übersetzungen und einiges mehr) folgen. Die Ehrungen häufen sich. Sie reichen vom Niedersächsischen Förderpreis für junge Künstler (1965) über den Heimito von Doderer-Literaturpreis (1996) bis zum Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Homburg (2008).

Zuletzt kommt zum Jubiläum der Horrorroman „Die Vorzüge der Dunkelheit“ auf den Markt, der vor erotischen Andeutungen nur so strotzt und Erfahrungen einer Krebsoperation verarbeitet. Die Werkausgabe, ediert in der Frankfurter Verlagsanstalt, wächst langsam an. Eine Autobiographie ist angekündigt.

Wolfs Œuvre entzieht sich einer einfachen Interpretation. Die Germanistin Ina Appel verweist in ihrer Dissertation auf die Inkonsistenz des Erzählten, die Sprengung von Zeit- und Handlungsabläufen, die Nähe zu Samuel Beckett, Peter Weiss und Franz Kafka sowie auf den Konstruktions-, Montage- und Collagecharakter der Texte des im weiten Feld zwischen (Neo-)Avantgarde und experimenteller Literatur einzuordnenden Autors. Schon die genannten Gewährsleute deuten an, daß Wolfs Niveau, gerade dann, wenn er Anspielungen und Nachahmungen erkennen läßt, beachtliche Höhen erreicht.

Zu den stärker verbreiteten Werken Wolfs zählt seine Fußballprosa. „Das nächste Spiel ist immer das schwerste“ (1994) vermittelt einen Einblick in seine Fähigkeit, sportliche Geschehnisse wortmächtig zu kommentieren. Ziel des Verfassers, der selbst zuerst Leichtathletik und Boxsport betreibt, ist es, „eine ganze Menge Welt“ im Fußball aufzuzeigen. Besonders studierenswert sind die dreizehn WM-Moritaten von 1930 bis 1986. Am Ende der Moritat „Neunzehnhundertsechsundachtzig“ heißt es: „Die Herren Völler und Matthäus saßen am Ende ganz verloren auf dem Rasen.“ In jedem aktuellen Turnier hofft die Fußballnation, daß es der eigenen Mannschaft gelingt, solche Szenen zu vermeiden. Unabhängig vom Ausgang der gegenwärtigen Europameisterschaft ist zu wünschen, daß eine nachwachsende Generation von Buchbegeisterten Ror Wolf neu entdeckt.

Foto: Ror Wolf in seiner Wohnung in Mainz (2008): Zwischen (Neo-)Avantgarde und experimenteller Literatur

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