© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/12 29. Juni 2012

CD: C. Pluhar
Lebendiger Barock
Jens Knorr

Überall ist Barock und in den Künsten sowieso. Die süd-amerikanischen Instrumente, wie Arpa Ilanera, Cuatro, Bandolin, Charango, Jarana und Requinto, sind direkte Nachkommen aus Spanien und Portugal importierter Instrumente, wie Laute, Barockgitarre und spanische Renaissanceharfe, belehrt uns Christina Pluhars informativer Aufsatz zu ihrem und des Ensembles L’Arpeggiata neuem, dem Südamerika-Projekt. Mehr noch: Im Gegensatz zu den heutigen europäischen Nachfahren unterscheidet die südamerikanischen nur wenig von den barocken Instrumenten. „Wenn man die Barockharfe neben der paraguayanischen Harfe oder die Barockgitarre neben dem Cuatro hört, hat man das Gefühl, daß sich Cousins wiedertreffen“, sagt Christina Pluhar. „Das paßt wunderbar zusammen.“

Was also liegt für ein Ensemble der Alten Musik näher, als sich in die Ferne zu begeben und die entfernten Verwandten, verlorene Vögel, „pájaros perdidos“, zu gemeinsamem Musizieren zu versammeln, zu Zamba, Joropo, Polca, Bolero, Lied, Volksmusik allesamt und Kunstmusik, weil kunstvoll musiziert.

Die chilenisch-schwedische Mezzosopranistin Luciana Mancini, die spanische Sopranistin Raquel Andueza, der italienische Tänzer und Sänger Vincenzo Capezzuto, Lucilla Galeazzi, eine der bekanntesten Stimmen der italienischen Volksmusik, und der französische Counter-Tenor Philippe Jaroussky, dazu der argentinische Gitarrist Quito Gato, der paraguayische Harfenist Lincoln Almada, der venezolanische Schlagzeuger Mario Hurtado Rodriguez und der chilenische Violinist Raul Orellana – sie sind von Produktionszusammenhängen des Ensembles bereits bekannt oder ordnen sich diesen ein, als hätten sie immer schon dazugehört. Pluhar und die Ihren hecheln keinem Buena-Vista-Social-Club-Geschäft hinterher, vielmehr bürgen Internationalität wie Individualität der Gesangs- und Instrumentalvirtuosen dafür, daß iberische und lateinamerikanische Alte und Neue Musik, musikalische Formen, Spiel- und Gesangstechniken, Lebenshaltungen sich ineinander spiegeln, berühren, verschränken, nicht aber zu leicht verdaulichem Einheitsbrei vermanschen.

Da gilt es, frappierende Übereinstimmungen im Verhältnis von akribischer Werktreue zu freier Improvisation, beispielsweise Auszierungstechniken betreffend, zu entdecken, Einsichten in das Fortleben barocker Form- als Gesellschaftsmodelle zu gewinnen und, ganz nebenbei, in die Kunst des Arrangements, wie sie Quito Gato meisterlich betreibt. So modern ein Fandango des spanischen Barockkomponisten Antonio Soler anmutet, wenn von Christina Pluhar arrangiert, so barock ein Tango Ástor Piazzollas, wenn von Jaroussky gesungen. Der gehört natürlich in diesen Kontext, hat sich doch in lateinamerikanischen und afroamerikanischen Kulturen das Verständnis für die erotische Qualität der männlichen Kopfstimme bruchlos erhalten.

Wer allein seinen Ohren nicht trauen mag, der kann sich anhand im Internet abrufbarer Konzertmitschnitte mit eigenen Augen von der ansteckenden Spiellust überzeugen, die „Los Pájaros Perdidos“ bei Musikern und Publikum entfacht.

Barock ist überall, weil unsere schiefrund geformte Perle die Moderne ist.

Los Pájaros Perdidos Virgin Classics (EMI)  www.virginclassics.com

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