© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/12 29. Juni 2012

Zur letzten Instanz
Euro-Rettung: Das Bundesverfassungsgericht wacht über die Einhaltung demokratischer Prinzipien
Paul Rosen

Eine der berühmtesten Anklageschriften der Geschichte sind Ciceros vor über 2.000 Jahren gehaltene vier Reden gegen den römischen Verschwörer Catilina, der einen Putsch gegen die Republik plante. „Quousque tandem abutere, Catilina, patientia nostra?“ (Wie lange noch, Catilina, willst du unsere Geduld mißbrauchen?), fragte Cicero.

Zwei Jahrtausende später, im badischen Karlsruhe, haben die Richter des Bundesverfassungsgerichts eine wuchtvolle Erklärung von sich gegeben, die nichts anderes ist als eine Anklageschrift: gegen die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Das höchste deutsche Gericht wirft ihr, der Repräsentantin des demokratischen Deutschland, in Sachen Europa und Euro-Rettung vor, das Parlament getäuscht zu haben, so daß die FAZ fast erschrocken von sich gab: „Das alles liest sich wie eine politische Genealogie der Desinformation.“

Die Richter stellten fest, daß die von Merkel geführte Regierung systematisch die Rechte des Bundestages mißachtet und verletzt habe. Sie habe es unterlassen, das Parlament „umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt“ über wichtige EU-Angelegenheiten zu unterrichten. In der Tat geht es in der Europapolitik in diesen Zeiten um mehr als die früheren Milchseen, Butterberge und Krümmungswinkel von Gurken. „Die Europäische Union erweist sich immer mehr als ein Bürokratenapparat, der unter weitgehendem Ausschluß der Öffentlichkeit Regeln entwirft, für die er keine Rechenschaft ablegen muß“, urteilt die Zeitschrift NovoArgumente.

Und die Krise wird schärfer. Nach dem ersten Rettungsschirm mußte ein zweiter installiert werden, der EU-Kommission werden immer mehr Aufgaben zugewiesen. Ein „Fiskalpakt“, den deutschen Wählern als Sparprogramm verkauft, ist in Wirklichkeit nichts anderes als der Versuch der Gleichschaltung der Haushaltspolitik. Eine „Finanztransaktionssteuer“, mit der angeblich die Spekulation eingedämmt werden soll, läuft darauf hinaus, die Bürger Europas vom Peloponnes bis Lappland in ein gleiches Steuerkorsett zu quetschen. Sogar die taz kommentiert unter der Überschrift „Das Ende der Demokratie“ die Lage sorgenvoll: „Viele Totengräber des Parlamentarismus sehen sich als seine treuesten Wächter.“

Die anschwellenden warnenden Stimmen sollten in der Tat auch derzeit vor allem auf Fußball-Großbildleinwände starrende Zeitgenossen aufrütteln. „Das Bundesverfassungsgericht versucht, Urteil für Urteil, den Bundestag wieder in seine Rechte einzusetzen. Die Verfassungsrichter erklären der Kanzlerin, daß die repräsentative Demokratie nicht darin besteht, daß sie allein die Repräsentantin ist“, schreibt Heribert Prantl mit feiner Ironie in der Süddeutschen Zeitung. Drastischer formuliert der Staatsrechtler Rupert Scholz: „Von einer wirklich eigenständigen Budgethoheit des Bundestags, wie sie im Grundgesetz definiert und – nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts – auch unabänderlich garantiert ist, kann aber kaum noch die Rede sein. Selbst wenn diese neuen Maßnahmen zur Rettung des Euros erfolgreich sein sollten: Verlierer ist und bleibt auf jeden Fall das Demokratieprinzip“, urteilt Scholz.

Uns vor dem Verlust des Demokratieprinzips zu bewahren – dafür haben die Väter des Grundgesetzes das Bundesverfassungsgericht geschaffen. Man kann den Richtern gewiß nicht vorwerfen, das Schwinden des parlamentarischen Bewußtseins und leider auch des parlamentarischen Selbstbewußtseins in Deutschland nicht gesehen zu haben. In diesem Monat sorgten sie in einer Woche zweimal für Schlagzeilen. Erst stellten sie die mangelnde Beteiligung des Bundestages an der Euro-Rettung fest, um danach den Bundespräsidenten zu bitten, den vom Bundestag beschlossenen ESM-Rettungsschirm nicht zu unterschreiben, weil man Zeit haben wolle, um die angekündigten Klagen zu prüfen. Was deutsche Politiker da treiben würden, sei „der Demokratie unwürdig“, kommentierte das Handelsblatt, das sich früher an Europafreundlichkeit kaum überbieten ließ.

Nur besonders wirkungsvoll waren die allseits bejubelten Urteile nie. Schon im Februar dieses Jahres hatte Karlsruhe das neunköpfige „Sondergremium“ des Bundestages gekippt, in dem sich die Regierung Euro-Rettungsaktionen heimlich absegnen lassen wollte. Die Regierung dürfe Aktivitäten des Rettungsschirmes nur zustimmen, wenn vorher der Bundestag zugestimmt habe, stellte das Gericht fest. Auch in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon von 2009 hatte das Gericht die zu geringen Rechte des Bundestages reklamiert.

2010 hoffte man, die Klage von Peter Gauweiler (CSU) und anderen gegen die Euro-Stabilisierung werde erfolgreich sein. Mit Verve trug der Prozeßbevollmächtigte Dieter Murswiek in Karlsruhe vor, der Verstoß gegen das Bail-out-Verbot (Verbot der Haftung für Schulden anderer Staaten) sei keine einmalige Vertragsverletzung, sondern es werde eine völlig neue Haftungs- und Transfergemeinschaft gegründet. Der ehemalige Bundesbankvorstand und Buchautor Thilo Sarrazin („Europa braucht den Euro nicht“) zitiert aus der Stellungnahme von Joa-chim Jahn zu dem letztendlich enttäuschenden Urteil: „Die ganz große Koalition der Euroretter hat jetzt freie Bahn: Das Bundesverfassungsgericht hat unmißverständlich klargestellt, daß es der Politik nur bei einer evidenten Überschreitung von äußersten Grenzen in den Arm fallen würde.“

Das Bundesverfassungsgericht werde sich niemals gegen eine breite politische Strömung stellen, folgert Sarrazin. Das hat es bei den Ostverträgen nicht getan, nicht bei der Abtreibung und nicht beim Maastricht-Vertrag (1993). „Die Waffe des Verfassungsrechts ist seit dem Urteil zum europäischen Stabilisierungsmechanismus stumpf geworden“, stellt Sarrazin fest. Es muß also jemand anders Merkel den entscheidenden Satz zurufen: „Quousque tandem abutere patientia nostra?“

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