© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/12 22. Juni 2012

Ein deutscher Patriot
Vor neunzig Jahren wurde der damalige Reichsaußenminister Walther Rathenau ermordet
NIls Wegner

Gesamtrahmen d. Pol. unerfüllbar!!“ Diese wenigen, vieldeutigen Worte notiert der deutsche Reichsaußenminister Walther Rathenau am Vormittag des 24. Juni 1922 noch schnell auf einem Blatt Papier, ehe er seine Villa in Berlin-Grunewald verläßt. Ziel ist das Auswärtige Amt in Berlin-Mitte; ehe Rathenau in den Wochenendurlaub auf dem Land geht, will er noch einer Attachéprüfung beiwohnen. Eine Viertelstunde später als geplant steigt er schließlich in den Fond seines offenen Wagens – wohl die Erinnerung an den Vorabend, an dem er sich mit dem US-Botschafter und dem Großindustriellen Hugo Stinnes besprochen hat, ließ ihn von der Haustür zurück ins Büro eilen und die rätselhafte Notiz niederschreiben. Ob Rathenau in diesen Minuten beschlossen hat, in der nächsten Arbeitswoche eine grundlegend neue Außenpolitik in Angriff zu nehmen, um die Weimarer Republik aus dem wirtschaftlichen Würgegriff der Reparationszahlungen an die ehemaligen Kriegsgegner zu befreien, wird niemals jemand erfahren.

Der Weg ins Amt führt über die Koenigsallee. Den größeren, mit drei Personen besetzten Wagen, der sich aus einer Seitenstraße heraus hinter ihren setzt und schnell aufholt, bemerken weder der Minister noch sein Fahrer. An der Kreuzung Erdener- und Wallotstraße knickt die Koenigsallee scharf ab; Rathenaus langsamer Wagen holt nach links zur Kurve aus. Da drängelt sich der Verfolger rechts vorbei; in dem Moment, als Rathenau verwundert hinüberblickt, hebt einer der Insassen eine Maschinenpistole und gibt einen Feuerstoß auf den Außenminister ab, während sein Sitznachbar eine Handgranate wirft.

So stirbt Walther Rathenau, ehemaliger Vorstandsvorsitzender der von seinem Vater gegründeten AEG und maßgeblich Verantwortlicher für die Umstellung der deutschen Wirtschaft auf Kriegsproduktion während der ersten beiden Weltkriegsjahre. Insbesondere bei der Organisation der deutschen Kriegsrohstoffversorgung spielte er bis 1915 eine wichtige Rolle. Der öffentliche Aufschrei über den Mord ist unvorstellbar – kein anderes Ereignis in der Geschichte der Weimarer Republik bringt so viele Menschen auf die Straßen. Massendemonstrationen wechseln einander ab; ein Generalstreik wird ausgerufen.

Angesichts dieses Gipfelpunkts einer Kette vorangegangener politischer Attentate im Zusammenhang mit dem Versailler Vertrag, so auf Philipp Scheidemann (mißlungen) und Matthias Erzberger (tödlich), deren Drahtzieher im militant rechten Milieu vermutet werden, ruft Reichskanzler Wirth am Tag nach Rathenaus Tod vor dem Reichstag aus: „Der Feind steht rechts!“ Bereits im Vorjahr hatte die Suche nach den Mördern Erzbergers ein rechtsextremes Untergrundnetzwerk namens „Organisation Consul“ aufgedeckt, angeführt vom ehemaligen Korvettenkapitän Hermann Ehrhardt – doch glaubt man die „O. C.“ bis zum Ministermord zerschlagen.

Nach den Mördern Walther Rathe-naus beginnt die größte Polizeifahndung der Weimarer Republik. Als Tätergruppe wird innerhalb weniger Tage ein Kreis um die beiden ehemaligen Offiziere und Angehörigen des antirepublikanischen Freikorps „Marinebrigade Ehrhardt“ Erwin Kern und Hermann Fischer ermittelt. Ernst von Salomon, Komplize und späterer Erfolgsschriftsteller, sollte Jahre später schreiben: „Kern und Fischer gingen ihren dunklen Weg“ – auf der Flucht vor der Polizei irren die beiden Haupttäter quer durch die Republik. Schließlich suchen sie Unterschlupf auf der kurzzeitig verlassenen Burg Saaleck, die einem Gesinnungsgenossen gehört. Dort sehen Anwohner nachts Lichtschein in einem der Türme; am nächsten Tag, dem 17. Juli, umstellt ein Polizeiaufgebot die Burg. Ein letztes Mal treten die Mörder ans Tageslicht; von den Zinnen des Turms bringen sie ein Hoch auf Kapitän Ehrhardt aus und werfen einige beschriebene Zettel hinab, die jedoch vom Wind davongetragen und niemals gefunden werden. Nach ihrer Rückkehr ins Turminnere eröffnen die Schupos das Feuer; ein Schuß dringt durch ein Fenster und trifft Kern in den Kopf. Fischer hievt den toten Mitverschwörer auf ein Bett, nimmt daneben Platz und richtet die Waffe gegen sich selbst.

Die tatsächliche Motivation für den Mordplan gegen Rathenau wird ein Rätsel bleiben. Der eigens durch eine Gesetzesnovelle aufgestellte „Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik“ verurteilt die festgenommenen Mittäter nicht wegen politischen, sondern wegen Mordes aus niederen Beweggründen, namentlich aus „blindwütigem Judenhaß“. Der in rechten und paramilitärischen Kreisen vorherrschende Antisemitismus habe die ausnahmslos sehr jungen, sozial entwurzelten ehemaligen Kriegsteilnehmer verhetzt.

In der Rückschau muß diese Urteilsbegründung als ein Vorwand erscheinen, die tieferen Hintergründe der Tat, ihre weiteren Mitwisser und Hintermänner beiseite zu schieben und das aufgewühlte Volk schnellstmöglich zu beruhigen. Rathenau selbst hatte sich, gerade aufgrund seiner jüdischen Herkunft und trotz der religiösen Diskriminierung, die ihm schon als jungem Menschen widerfuhr, in seinem frühen Aufsatz „Höre, Israel!“ polemisch gegen das Judentum der Moderne und des wilhelminischen Zeitalters gewandt. In weiteren Schriften beklagte er, der Großindustrielle, die fortschreitende, entseelende Mechanisierung aller Lebensbereiche – ein Argumentationsstrang, der ihn mit Theoretikern einer „organischen“ Lebensauffassung aus den Reihen der „Konservativen Revolution“ wie Othmar Spann verbindet.

Ernst von Salomon, beredtester Zeitzeuge und Mitverschwörer der „O. C.“, verwehrt sich denn auch in seinem autobiographischen Hauptwerk, „Der Fragebogen“, scharf gegen antisemitische Beweggründe für das Attentat auf Rathenau. „Ich möchte beinahe sagen, er wurde getötet, obgleich er Jude war“, heißt es da, und daß auf der schwarzen Liste des Geheimbundes diverse „Erfüllungspolitiker“ gestanden hätten – der Reichsaußenminister sei nur eines unter vielen Zielen gewesen. Auch habe es sich bei der „Organisation Consul“ mitnichten um eine rechtsextreme Terrorzentrale gehandelt, sondern vielmehr um den Versuch, an der Interalliierten Kontrollkommission vorbei einen militärischen Spionagedienst aufzubauen, wozu die Reichswehr allein nicht in der Lage gewesen sei.

Der Historiker Martin Sabrow folgt dieser Argumentation 1994 in seiner wegweisenden Arbeit und geht noch einen Schritt weiter: Die Attentate seien Versuche gewesen, im Rahmen einer „Strategie der Spannung“ einen Umsturzversuch von links zu provozieren, um schließlich durch einen „rettenden“ Militärputsch die verhaßte Republik ausmerzen zu können. Was auch immer die Verschwörer hatten erreichen wollen – der Rathenau-Mord hatte das genaue Gegenteil zur Folge. Bürgertum und Linke rückten noch näher zusammen, und der Reichsaußenminister starb unmittelbar vor einer möglichen grundlegenden Wende in der deutschen Außenpolitik.

Foto: Walther Rathenau (1867–1922); Gedenkstein am Ort des Attentats in Berlin-Wilmersdorf: Der nationalliberale Industrielle und Politiker wurde von der militanten politischen Rechten geschmäht, dennoch fanden seine Ideen einer „vom Volk getragenen Gemeinwirtschaft“ später gerade im Lager der Konservativen Revolution Zustimmung

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen