© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/12 22. Juni 2012

Die EUtopien der linksliberalen Eliten
Das Neue Jerusalem
Peter Kuntze

Immer häufiger wehklagen Konservative, der im Oktober 2000 von der rot-grünen Schröder-Fischer-Regierung initiierte „Kampf gegen Rechts“ richte sich nicht mehr nur gegen „neonazistische“ Rassenideologen, sondern zunehmend auch gegen einst ehrenwerte eigene Positionen. Ob solcher Larmoyanz nicht den Kopf zu schütteln, fällt schwer, denn das Gejammer offenbart einen erschreckenden Grad an Realitätsverlust: Ja, selbstverständlich ist es das Ziel jener mit Steuermitteln üppig gefütterten Kampagne, alles mundtot zu machen, was sich rechts von der stets weiter nach links driftenden Mitte artikuliert, und es durch das Etikett „rechtsextremistisch“ zu kriminalisieren. Die an den Schalthebeln der Macht sitzende politisch-mediale Klasse schlägt den Sack und meint den Esel – sie ruft die „Anständigen“ auf, die Märsche der braunen Fahnenschwenker mit Sitzblockaden zu stoppen, und läßt gleichzeitig die zu Volkserziehern ermächtigten Zivilgesellschaftler unter den Parolen von „Weltoffenheit, Toleranz und Antirassismus“ für eine andere Republik demonstrieren.

In Nuancen abgestuft, verfechten alle sechs im Bundestag vertretenen Parteien und ihr publizistisches Begleitkommando diesen „antifaschistischen“ Exorzismus. Ihm fällt anheim, wer – ausgehend von der ethnischen Pluralität – jedem Volk, auch dem deutschen, das Recht auf die eigene Heimat, Geschichte, Sprache oder Kultur einräumt und die Welt nicht unter der Flagge „universaler Werte“ (notfalls auch mit Hilfe „humanitärer Interventionen“) homogenisieren will, sondern für die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten eintritt.

Der „Kampf gegen Rechts“ zielt auf all jene, die – ausgehend von der natürlichen Ungleichheit der Menschen – für Differenz, Leistung, Elite und Meritokratie plädieren und daher aus der Gleichheit vor dem Gesetz keine soziale Gleichheit und keine bildungsmäßige Gleichmacherei ableiten.

Um dem erstrebten anderen Gemeinwesen („Bunte Republik Deutschland“) näherzukommen, werden bis dato geltende Werte relativiert („Vielfalt statt Einfalt“, „es ist normal, anders zu sein“) und Freiheitsrechte durch rigorose Gleichmacherei eingeschränkt (Antidiskriminierungsgesetze, „Gender Mainstreaming“). Voraussetzung für eine erfolgreiche und dauerhafte Implantierung des Relativismus und seines Zwillings, des Egalitarismus, ist somit die allmähliche Auflösung der historisch gewachsenen Mehrheitsgesellschaft in diverse Minderheiten. Für diesen Prozeß der Entsolidarisierung muß neben Ehe und Familie besonders auch die nationale Identität geschwächt, „dekonstruiert“ und letztlich zerstört werden. Die Entnationalisierung hatten bereits die beiden deutschen Teilstaaten mit großem Eifer betrieben: Während die DDR an die Stelle der nationalen Identität der Deutschen die ideologische Identität mit dem Sowjetblock setzte und eine „sozialistische Nation“ erfand, beschwor die BRD die weltanschauliche Identität mit dem „Westen“, proklamierte eine „pluralistische, multikulturelle Gesellschaft“ und hat nach der Wiedervereinigung „das deutsche Volk“ als den staatlichen Souverän des Grundgesetzes durch eine vielschichtige „Bevölkerung“ ersetzt.

Das große Projekt, das sich hinter dem „Kampf gegen Rechts“ verbirgt, ist das seit der Aufklärung in immer neuen Anläufen und Variationen beschworene Gedankenkonstrukt einer staaten- und klassenlosen Weltgesellschaft. Ihr einflußreichster Propagandist ist in Deutschland Jürgen Habermas, von der Zeit schon vor Jahren zum „Weltphilosophen“ verklärt.

In seinem jüngsten Essay („Zur Verfassung Europas“) hat Habermas angesichts der Euro-Krise einmal mehr für den alten Kontinent eine „transnationale Demokratie“ gefordert, die letztlich Teil einer „kosmopolitischen Gemeinschaft“ werden soll. Dies ist auch der Kern des von Brüssel vorangetriebenen Einigungsprozesses, der längst zu einem ideologischen Vehikel verkommen ist und darauf abzielt, den Grundbestand der Staaten aufzulösen, die Identität der Völker zu zerstören und im Zeichen des Universalismus die Gesellschaften in formlose Gebilde umzuwandeln.

Für die Mitglieder der EU geht es daher nicht, wie so häufig beschworen, um „Krieg und Frieden“, sondern um Prosperität oder gemeinsame Verarmung, um nationale Selbstbehauptung oder kollektive Bedeutungslosigkeit im Zeichen einer UdSSE – einer Art „Union der Sozialliberalen Staaten Europas“. Diese Union wird gespeist aus dem Strom eines liberalen Sozialismus und eines sozialen Liberalismus, die, unseren Kontinent gleichsam als „one world“ en miniature nehmend, den kosmopolitischen und internationalistischen Traum von einer besseren Welt träumen. Doch auch diese Vision ist, wie alle Utopien, eine blutleere Kopfgeburt nach dem Beispiel des imaginären „Sowjetmenschen“. Denn da es kein europäisches Volk gibt und keine gemeinsame Sprache, existiert auch keine europäische Öffentlichkeit, die in einem „herrschaftsfreien Diskurs“ à la Habermas ihre Angelegenheiten gemeinschaftlich verhandeln könnte. Aus de Gaulles Europa der Vaterländer ein „Vaterland Europa“ zu machen, ist zum Scheitern verurteilt. Doch der Linksliberalismus, der in zahlreichen EU-Ländern bereits vor Jahren die Meinungsführerschaft in Politik und Medien erobert hat, stützt sich auf ein Credo, das so human wie selbstverständlich klingt: „Wir sind alle Menschen und leben in einer Welt“, lautet dieses Glaubensbekenntnis.

Die Verheißung einer staaten- und klassenlosen Weltgesellschaft, in der sich alle Menschen, ungeachtet ihrer Herkunft, als freie und gleiche Bürger friedlich begegnen, beseelt – abgesehen von der marxistischen Zwischenetappe des Klassenkampfes – Linke ebenso wie Linksliberale. Vereint ziehen sie gegen alles zu Felde, was ihrem säkularen Jerusalem im Wege steht: in vorderster Front das widerständig Nationale (denunziert als „nationalistische Egoismen“), Tradition, Geschichte, Religion, Ehe, Familie – Werte, die der Nivellierung durch kulturellen Relativismus und der Protegierung diverser sexueller und anderer Minoritäten zu weichen haben.

Wer indes auf dem Realitätsprinzip und einem Mindestmaß an altbewährten Beständen beharrt, gerät ins Visier der Kämpfer für eine bessere Welt, die sofort das Schwert des ideologischen Eiferertums schwingen. Doch nicht nur Einzelpersonen, diffamiert als „Rechtspopulisten“, geraten ins Schußfeld der selbsternannten Gesinnungs- und Entnationalisierungswächter. Immer häufiger stehen in letzter Zeit Regierungen, Staaten und selbst Völker am Pranger, denn schließlich sitzen die Weltverbesserer nicht nur in Brüssel und in Deutschland an den Schalthebeln der Macht und schlagen bei jeder Regung nationaler Selbstbehauptung lautstark Alarm.

Dahinter steht ein Welt- und Menschenbild, das fern jeder Realität ist. Der Satz „Wir sind alle Menschen und leben in einer Welt“ beruht auf einem verhängnisvollen Irrtum: Der „Mensch“, abstrahiert von seiner genetischen, ethnischen, geschichtlichen und soziokulturellen Herkunft sowie von sämtlichen Bezügen zu Gegenwart und Wirklichkeit, ist bloße Fiktion, eine abstrakte Gattungsbezeichnung und Hülle ohne Inhalt – gemäß der berühmten Sentenz des französischen Staatsrechtlers Joseph de Maistre, der schon vor 200 Jahren erklärte, noch nie habe er einen „Menschen“ getroffen, sondern immer nur Italiener, Franzosen, Russen oder Engländer. Ein Gedankenkonstrukt ist auch die Vorstellung der einen Welt. In Wahrheit leben wir in vielfältigen globalen Räumen, geprägt durch unterschiedliche Landschaften, Klimazonen, Faunen, Floren, Religionen, Kulturen, Historien etc. Es ist das vibrierende Leben selbst in all seiner Mannigfaltigkeit und Buntheit, das unentwegt Asymmetrien, Variationen und Differenzen hervorbringt.

Diese Erkenntnis leitete vor 2.500 Jahren bereits die Vorsokratiker. Ihnen erschien die Welt als ewige Wiederkehr naturhafter Prozesse, die sich nur mit verschiedenen Darstellern und in wechselnden Kostümen vollziehen. Alles Sein, so ihr Kerngedanke, hat einen gemeinsamen Urgrund. Dieser Urstoff, in tausendfältiger Wandlung begriffen (Heraklit), bringt alle Dinge aus sich hervor, nimmt sie wieder in sich zurück und verursacht so den ewigen Wandlungsprozeß. Die vorsokratische Erkenntnis ließe sich mithin auf die prägnante Weltformel bringen: „Eins ist alles – alles fließt.“

Dahinter steht die Überzeugung, daß Kampf und Einheit der Gegensätze die Dialektik des Lebens bedeuten, wobei die Einheit als Gleichgewicht oder Ruhe nur temporär und relativ, der Kampf aber dauerhaft ist. Das „Absolute“, das „Ewige“ sind aus dieser Perspektive lebensverneinende Vorstellungen und künstliche Ideale; Begriffe wie „ewige Seligkeit“, „ewiges Leben“ oder „ewiger Frieden“ sind in Wahrheit Synonyme für den Tod. Wer derartige Ziele anstrebt, will das ständig fließende „Alles“ zum Stillstand bringen und durch die Aufhebung sämtlicher Widersprüche das „Ende der Geschichte“ herbeiführen: Wo „alles“ ist, soll „eins“ werden – sei es die paradiesische Ruhe als Erlösung im Jenseits, sei es das dem „Kampf gegen Rechts“ zugrundeliegende Konzept der „one world“ als Erlösung im Diesseits.

Eine wichtige Etappe auf dem Weg zur erstrebten Weltgesellschaft ist die sich im Zuge der Schulden- und Euro-Krise abzeichnende Tendenz, die Mitgliedstaaten ihrer nationalen Souveränitätsrechte zu entheben, die wichtigsten Entscheidungen in Politik und Wirtschaft zu vereinheitlichen und schrittweise eine Transfer- und Haftungsunion herbeizuführen. Durch Vergemeinschaftung der Schulden der einen und der Exportüberschüsse der anderen (vornehmlich Deutschlands) würde letztlich das bürgerliche Leistungsprinzip „Jedem das Seine“ zugunsten des sozialistischen Verteilungsprinzips „Allen das Gleiche“ ausgehebelt werden.

Somit treibt dieser Kampf nicht nur auf einzelstaatlicher, sondern auf gesamteuropäischer Ebene einer baldigen Entscheidung zu: auf weitere De-Nationalisierung oder auf Re-Nationalisierung. Für die EU als ursprüngliches Europa der Vaterländer geht es darum, ob sie im Konzert der Mächte noch eine Rolle spielen wird, für ihre Mitglieder darum, ob sie als selbstbewußte Nationen die Union als Staatenbund stärken oder als verarmte und entseelte Vasallen deren Untergang als künstlichen Zentralstaat beschleunigen werden.

Folgte man der New York Times, wäre trotz allem Optimismus angebracht. Doch es ist wenig wahrscheinlich, daß das globale Leitorgan des Linksliberalismus bei seinen transatlantischen Gesinnungsgenossen ein rechtzeitiges Umdenken auslösen wird. Das Blatt schrieb Ende letzten Jahres: „In dieser Phase der Krise wird offenbar, wie wenig Substanz in dem ‘Pseudostaat Europa’ steckt. Ein Amerikaner aus Oregon ist einverstanden damit, daß seine Steuern an seine Landsleute in Arizona gehen, denn wir sind eine Nation. Auch die Westdeutschen haben enorme Summen für Ostdeutschland aufgebracht, denn sie sind ein Volk. Deutsche und Griechen sind dies aber nicht – genausowenig wie Franzosen und Deutsche. Jetzt, wo Opfer verlangt werden, löst sich die europäische Identität in Luft auf.“

 

Peter Kuntze, Jahrgang 1941, war von 1968 bis 1997 als Redakteur der Süddeutschen Zeitung tätig.

Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Deutschland und den Ernstfall („Die Euro-Krise ist erst der Anfang“, JF 22/10).

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