© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/12 22. Juni 2012

Den Nerv der Zeit getroffen
Psychoanalyse: Nachruf auf Margarete Mitscherlich
Thorsten Hinz

Die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich, die vergangene Woche mit fast 95 Jahren in Frankfurt am Main starb, war bis zuletzt mit einer ungeheuren geistigen Präsenz gesegnet, die ihr Publikum und ihre Gesprächspartner faszinierte. Doch was bleibt von ihrem Werk? Die Impulse für die Frauenbewegung, ist sich Alice Schwarzer sicher. Und sonst?

Ihr bekanntestes Buch, „Die Unfähigkeit zu trauern“ (1967), das sie gemeinsam mit ihrem Mann Alexander Mitscherlich verfaßte, ist ausschließlich noch als Zeitdokument von Interesse. Es handelt von der kollektiven Psyche der Deutschen unter Hitler und nach dem Zweiten Weltkrieg. Es analysiert weniger die psychologischen Rückwirkungen der politischen und geschichtlichen Situation, sondern erklärt die deutsche Politik und Geschichte als Ausfluß einer kranken Psyche. Genau damit trafen die Mitscherlichs den Nerv der Zeit und befeuerten die Studentenrevolte. „Die Unfähigkeit zu trauern“ lieferte, zusammen mit Theodor Adornos „Negativer Dialektik“ (1966), die Stichworte für die bundesdeutsche Vergangenheitsbewältigung.

Die ungeheure Wirkung des Buches steht im grotesken Mißverhältnis zu seiner wissenschaftlichen Qualität. Entsprechend groß waren und sind die angerichteten Verwirrungen. Es bot ein bequemes „Deutungsangebot für den moralischen Zustand der Nachkriegsrepublik“. Zugleich eröffnete der Auschwitz-Rekurs – wie das Beispiel Joschka Fischers zeigt – reale Machtoptionen.

Weiterhin spielte der Wunsch hinein, die Rache der Opfer „durch nachträgliche Eingemeindung und Heiligsprechung abzuwehren“. Zum bevorzugten Objekt dieser „Gegenidentifizierung“ wurde der „jüdische Intellektuelle als mehrdeutige Inkarnation des Opfers, als das man sich selber fühlte“. Dieser „Andere“, den die Elterngeneration gefürchtet und eliminiert hatte, war jetzt der „geliebte Andere“, den man vermißte. Aus Fremdheit wurde ein „Liebesprogramm“, Fremdenfeindlichkeit wurde in Fremdenliebe verwandelt (Christian Schneider).

Bei einem ihrer letzten öffentlichen Auftritte äußerte Margarete Mitscherlich, Europa sei weiblicher geworden, „zum Glück“. Und ja, die Frauen müßten in einer männlichen Welt auch Teile ihrer Weiblichkeit aufgeben, aber das sei auch gut so. In späten Interviews hat sie bedauert, sich aus Karrieregründen zuwenig um ihren heranwachsenden Sohn gekümmert zu haben.

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