© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/12 08. Juni 2012

Die Rolle in der Welt neu bestimmen
Der General a.D. Dieter Farwick analysiert die aus seiner Sicht unabgestimmten Strategien der deutschen Außenpolitik
Rolf Dressler

Klare Gedankenführung, gründliche Abwägung, Beurteilung und Bewertung der jeweiligen Sachverhalte und erst danach die Einordnung in größere historische und politische Zusammenhänge: Das alles zeichnet auch das unlängst erschienene Buch von Dieter Farwick aus. Der Verfasser, ehemals Brigadegeneral der Bundeswehr und langjähriger Nato-Stabsoffizier, verkörpert darin klassische Tugenden: nüchterne Sachbezogenheit, geradliniges Denken fernab billiger Rechthaberei und ein wohlbegründetes konstruktives Staats- und Demokratieverständnis.

Damit erschließt Dieter Farwick dem Leser ein ebenso umfassendes wie aufschlußreiches Gegenwarts- und Zukunftsbild. Nicht von ungefähr richtet er den Blick gleich zum Einstieg auf die anhaltenden Turbulenzen direkt vor unserer Haustür, auf die beinahe noch verharmlosend so genannte „Euro-Krise“, die in Wahrheit durch die ungeheuerlichen Staatsschulden in Europa und in den Vereinigten Staaten von Amerika verursacht worden sei sowie vornehmlich auch durch die nachgerade halsbrecherischen Versuche, Banken, also maßgebliche Mitauslöser des Weltfinanzdesasters, um nahezu jeden Preis und zu Lasten der Allgemeinheit irgendwie vor dem Untergang zu bewahren.

Schon dieses Herangehen an das sinnfällig selbst gesetzte Thema „Wege ins Abseits. Wie Deutschland seine Zukunft verspielt“ (bzw. zu verspielen droht) belegt anschaulich, daß der „gelernte Soldat“ Dieter Farwick den Begriff Sicherheit richtigerweise sehr breit aufgefächtert und keinesfalls nur militärstrategisch verstanden wissen möchte. Die USA, so schreibt er, hätten als alleinige Supermacht zwar „relativ“ an Einfluß eingebüßt, seien aber dennoch nach wie vor bereit und imstande, weltweit zu handeln. Gleichwohl sei man sich in Washington bewußt, daß das Militär fortan nicht mehr allein die entscheidende Währung im „Great Game“, in der Welt-Machtgemengelage sein werde.

Zwei Mißerfolge des amtierenden US-Präsidenten beeinträchtigten die Handlungsfähigkeit der USA sowohl nach innen als auch nach außen. Zum einen habe Barack Obama es nicht vermocht, die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft zwischen Befürwortern und Gegnern eines starken Staates zu verringern, sondern er habe die Kluft sogar noch vertieft. Und zum zweiten habe Obama sein Versprechen nicht eingelöst, das vielkritisierte Militärgefängnis Guantanamo auf Kuba für immer zu schließen. Beides wiege schwer in einer Zeit, in der sich China, Indien, Brasilien, Rußland und sogar auch Südafrika mit aller Kraft anschickten, wirtschaftlich schon sehr bald in die Weltspitze vorzustoßen.

Die weitere Entwicklung, davon ist der welterfahrene Dieter Farwick überzeugt, liege offen auf der Hand, selbst wenn sie in ihren möglichen Wendungen und Windungen naturgemäß nicht bis ins Detail vorhersehbar sei. Doch während sich das Augenmerk derzeit ringsumher auf China konzentriert, traut Farwick den Indern einen sogar noch rascheren Aufstieg nach ganz oben zu. Denn: Indien als weltgrößte Demokratie sei den USA eng verbunden, liege geopolitisch sehr günstig, verfüge über eine junge, homogene Bevölkerung mit einer gut ausgebildeten Mittel- und Oberschicht sowie einem dynamischen und innovativen Unternehmertum; und das Riesenland entwickele sich wirtschaftlich und finanziell hervorragend, vor allem auch dank eines exzellenten Dienstleistungssektors, der inzwischen bereits mehr als fünfzig Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beisteuert.

Ungewiß und damit ein erheblicher Unsicherheitsfaktor in der künftigen Welt-Machtarchitektur ist nach Dieter Farwicks Einschätzung, welchen Weg Rußland, der an Fläche größte Staat der Erde, nach seinem „schmerzhaften Abstieg“ von den Höhen der zweiten Supermacht neben den Vereinigten Staaten nehmen könnte. Dies um so mehr auch deshalb, weil „das System Putin/Medwedew“ Rußland schleichend mehr und mehr in einen Unrechtsstaat verwandelt habe. Und gleichsam in den Sternen stehen für den Buchautor neben all diesen schwergewichtigen Unwägbarkeiten noch obendrein die künftigen Entwicklungen des Iran als möglicher „nuklearer Zeitbombe“ und, wahrlich nicht zuletzt, der schier endlose Israel-Palästina-Konflikt, die fatalistisch so genannte „Mutter aller Konflikte“ – im Nahen und Mittleren Osten und sogar über diese Welt-Unruheregion hinaus. Zudem verlange der unberechenbare islamistische Terrorismus in Gestalt des Dschihad, des „Heiligen Krieges“ im Namen des Propheten, zwingend eine stimmige Gesamtgegenstrategie in Deutschland und in den anderen westlich-demokratischen Staaten, ein ganzheitliches Planen und Handeln von Regierung und Parlament.

Eine hervorragende feste Einrichtung dafür wäre nach Dieter Farwicks Auffassung ein Nationaler Sicherheitsberater im Bundeskanzleramt mit einem interdisziplinären Team von Wissenschaftlern, Diplomaten und Militärs, das im In- und Ausland möglichst gut vernetzt ist. Er sollte auf direkte Weisung des Bundeskanzlers ressortübergreifend und in enger Zusammenarbeit etwa mit den Bundesministerien, Botschaften, Nachrichtendiensten sowie auch privaten Wirtschaftsunternehmen und politischen Stiftungen ein Woche für Woche aktualisiertes Gesamt-„Interessenprofil“ der deutschen Bundesregierung erstellen.

Dieter Farwicks nachdrückliche Mahnung: Die bis heute leider gängige Formel von der „Außen- und Sicherheitspolitik“ sei schlicht falsch, weil unzulässig verengt. Wirklich umfassende Sicherheitspolitik müsse vielmehr das gemeinsame Dach aller Kabinettsressorts bilden, ob Wirtschaft, Finanzen, Soziales, Justiz, Innen-, Außen- oder Entwicklungspolitik. Eine sehr empfehlenswerte Lektüre.

Dieter Farwick: Wege ins Abseits – Wie Deutschland seine Zukunft verspielt. Osning Verlag, Bielefeld 2011, gebunden, 336 Seiten, 24,60 Euro

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