© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/12 01. Juni 2012

Falscher Exitus
Spektakuläre Fälle von verfrühter Hirntod-Diagnose / Ist der Tod kein punktuelles Ereignis, sondern ein Prozeß?
Michael Manns

Etwa 12.000 Menschen warten in Deutschland auf ein Spenderorgan. Mit dem novellierten Transplantationsgesetz soll die Organspende angekurbelt werden: Alle Krankenversicherten werden nun nach ihrer Bereitschaft zur Organspende schriftlich befragt. Dem Anschreiben soll sogar der Spenderausweis schon beiliegen. Entscheidendes Kriterium, um Organe zu entnehmen, ist der Hirntod. Wird dieses Kriterium fragwürdig, kann das Transplantationsgeschäft seine Tore schließen. Doch die Hirntod-Definition ist immer mehr umstritten. Auch in jüngster Zeit wurden Menschen für tot erklärt, die eigentlich noch lebten.

Ein spektakulärer Fall ereignete sich kürzlich in Argentinien. Dort kam ein Baby viel zu früh auf die Welt – es war erst die 26. Woche. Die Klinik erklärte es für tot. Als die Mutter es sehen wollte, schickte man sie in die Kühlkammer der Klinik. Dort fand sie es in einem Sarg, die zarte Haut von Rauhreif überzogen. Plötzlich sah die Mutter, wie das Baby seine Hände und Füße bewegte. Sofort kam es wieder auf die Neugeborenenstation, und die Nachricht von diesem Wunder ging um die Welt.

Vor vier Jahren erlitt der damals 17jährige Steven Thorpe aus dem englischen Coventry einen schweren Autounfall. Thorpe wurde danach von vier Spezialärzten für hirntot erklärt. Sie Ärzte bearbeiteten die Eltern, ihre Einwilligung für eine Organtransplantation zu geben. Doch der Vater mißtraute ihnen. Er hatte ein Zucken am Körper seines Sohnes entdeckt und zog eine Privatärztin zu Rate. Steve wurde weiterbehandelt und konnte nach sieben Wochen die Klinik verlassen. Er bekommt Physiotherapie, weil sein linker Arm noch taub ist. Ansonsten führt der ehemals „Hirntote“ ein weitgehend normales Leben. Kürzlich kritisierte Thorpe massiv seine vier verantwortungslosen Todesärzte.

Dem Berliner Physikprofessor Karl-Heinz Pantke wurde plötzlich übel. Er spürte eine Explosion in seinem Kopf. Dann hatte er auch schon das Gefühl, über seinem Körper zu schweben. Als der Notarzt kam, war er bei vollem Bewußtsein, aber komplett gelähmt. Puls und Herzschlag waren kaum mehr spürbar. Pantke mußte entsetzt mit anhören, wie ein Sanitäter mit den Worten „und Exitus“ seinen vermeintlichen Tod diagnostizierte.

Im Krankenhaus wurde dann das Locked-in-Syndrom festgestellt, ein Wachkoma ohne jede Möglichkeit der Lebensäußerung. Eigentlich sterben die Patienten daran. Doch nicht Karl-Heinz Pantke. Er ist wieder zu Hause, allen Prognosen zum Trotz. Eine traurige Geschichte, die im Zusammenhang mit dem Hirntod immer wieder zitiert wird, ist das „Baby im Leichnam“. Bei einer Schwangeren (15. Woche) aus Erlangen wurde Hirntod diagnostiziert. Sie hatte einen schweren Verkehrsunfall erlitten. Doch ihr Embryo konnte sich weiterentwickeln – fünf Wochen lang. Erst durch eine Infektion kam es zum Ende der Schwangerschaft.

Ist hirntot gleich tot? Wird nur eine lebend konservierte Leiche warmgehalten oder haben die Ärzte einen sterbenden, schwerstkranken Menschen vor sich? Hirntote regulieren ihre Körpertemperatur, reagieren auf Infektionen und Verletzungen sowie Schmerzreize, verdauen und scheiden aus. Hirntote Kinder können wachsen und ihre Geschlechtsentwicklung fortsetzen. Viele Experten sagen daher, der Tod sei kein punktuelles Ereignis, sondern ein Prozeß.

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