© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/12 01. Juni 2012

Ein Hauch von Wunderheiler Cagliostro
Der israelische Physiologe Henry Markram möchte die Neurowissenschaften revolutionieren
Klaus Abel

Es soll Kollegen geben, die bei den gut inszenierten Auftritten des Neurowissenschaftlers Henry Markram einen „Hauch von Cagliostro“ verspüren, sich mithin an jenen Goldmacher erinnert fühlen, der als Hochstapler im 18. Jahrhundert zu europäischer Berühmtheit gelangte.

Was die phantastischen Perspektiven betrifft, die der in Südafrika und Israel ausgebildete Mediziner Markram eröffnet, so scheint sich der Vergleich mit dem alchemistischen Wunderheiler aus Sizilien wirklich aufzudrängen. Denn der an der renommierten École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) forschende Markram verspricht, bis 2022 das menschliche Gehirn nachzubauen. Damit hofft er, den langersehnten Durchbruch bei Alzheimer und Parkinson sowie bei Hunderten anderer Krankheiten des Gehirns zu schaffen, die bislang als untherapierbar gelten.

Unsterblichkeit durch künftige Nanotechnologie?

Markrams „Blue Brain Project“ an der EPFL will die Funktionsweisen von Milliarden Nervenzellen im Gehirn mit einem Großmodell erklären und damit den Weg frei machen für eine neue Generation von Medikamenten: „E-Drugs“, elektronischen Tabletten, die ein riesiges Spektrum neurologischer Leiden beheben sollen. Tierversuche werden dann der Vergangenheit angehören, während das elektronische Gehirn der Vorläufer für Roboter mit menschengleichem Gedächtnis sein könnte.

Das schließt nahtlos an messianische Botschaften des New Yorker Informatikers Ray Kurzweil an, der bis 2029 die gelungene Synthese von Hirn und Computer erwartet und dem Menschen Unsterblichkeit infolge nanotechnologischer Fortschritte verheißt. Wie Kurzweils gottgleiche „Menschmaschine“ soll auch Markrams Super-PC mit seinen Hirnsimulationen das letzte Mysterium menschlichen Geistes entschleiern: die Entstehung des Bewußtseins. Am Ende, so glaubt der Lausanner Forscher, werde sein Projekt sogar „die Welt besser und friedlicher machen“.

Die Wissenschaftsjournalistin Susanne Donner, die Markram (immerhin Gründer der gleichnamigen Synthesizer-Firma und Träger der National Medal of Technology) zwar zwischen „Genie und Größenwahn“ schwanken sieht und die auch mit Rodney Douglas (ETH Zürich) seinen schärfsten Kritiker zitiert, will trotzdem, ungeachtet vieler mißtrauisch stimmender Visionen, in ihm keinen Cagliostro redivivus erkennen. Stellt sich Markram doch mit seinen Laboren am Genfer See der Begutachtung durch Kollegen aus der Computerwissenschaft, aus der Bio- und Neuroinformatik, um von der EU eine Milliarde Euro zur Realisierung seiner Forscherträume zu erhalten. Eine Menge Steuergeld, das Brüssel für „riskante Forschung“ in der Informations- und Kommunikationstechnologie auslobt.

Markram steht hier in einem scharfen Wettbewerb, denn nur zwei Projekten fließt die Riesensumme ab 2013 zu. Von deutscher Seite liegt lediglich die Forschergruppe um Hans Lehrach (Max-Planck-Institut für molekulare Genetik/MPIMG) aussichtsreich im Rennen, mit dem Vorhaben einer „elektronischen Patientenakte“, die aus einem unendlichen Datenmeer per Mausklick individuelle Therapien ermöglichen soll. Markram, so meint Donner, stehe gegenüber solchen Konkurrenten nicht deshalb schlecht da, weil er eine aufdringliche Eigenwerbung betreibe.

Die jüngste Evaluierung, hinter der er Douglas vermutet, der seinem Kunsthirn den „Todesstoß“ versetzen wolle, überstand der charismatische Neurowissenschaftler mit glänzenden Zeugnissen. Douglas’ Zweifel bleiben allerdings bestehen, ob Markram, der über sein seit 2005 laufendes „Blue Brain Project“, den Nachbau eines Segments aus dem Rattenhirn, wenig veröffentlichte, den Sprung vom virtuellen Nagerhirn zur detaillierten Rekonstruktion des menschlichen Gehirns, das mehr als das Tausendfache größer ist, in nur zehn Jahren wirklich meistern werde (Bild der Wissenschaft, 5/12).

Informationen zum „Blue Brain Project“:  bluebrain.epfl.ch

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