© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/12 01. Juni 2012

Politische Ernüchterung
Vertriebene: Das Pfingsttreffen der Sudetendeutschen offenbart die innere Spaltung der Volksgruppenvertretung
Gernot Facius

Die positive Nachricht vorweg: Die Sudetendeutschen haben bei ihrem Pfingsttreffen die Propheten der „biologischen Lösung“ der Vertriebenenfrage enttäuscht. Welche andere gesellschaftliche Gruppe bringt es schon fertig, ausgerechnet an Feiertagen, wenn die Sonne ins Grüne lockt, mehr als 20.000 in stickigen Messehallen zu versammeln? Die Volksgruppe lebt, auch 67 Jahre nach Kriegsende, sie versteckt sich nicht – das ist die zentrale Botschaft des 63. Sudetendeutschen Tages in Nürnberg.

Die für die Spitze der Sudetendeutschen Landsmannschaft (SL) etwas weniger schmeichelhafte Nachricht: Es sind eigentlich zwei unterschiedliche Veranstaltungen. Die Zahl der Teilnehmer an der traditionellen Hauptkundgebung ist in etwa deckungsgleich mit der der Besucher, die gleich nach Ankunft die Hallen mit den langen Tischen der Heimatgebiete ansteuern – und darauf verzichten, sich die Reden der Prominenz anzuhören. Desinteresse an der Politik oder schlicht politische Ernüchterung? Vermutlich letzteres.

Viele Landsleute sind enttäuscht. Nicht nur von den Großkopferten in Berlin und München, sondern auch von den eigenen Leuten. Die wie ein Mantra verbreitete Zuversicht ihrer Repräsentanten Bernd Posselt und Franz Pany – mit den zwei Prag-Visiten des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) sei „unumkehrbar“ eine positive Entwicklung eingeleitet worden – teilen sie (noch) nicht. Direkte Kontakte zwischen Prag und der Volksgruppenvertretung sind bis zur Stunde nicht zustande gekommen, der tschechische Regierungschef Petr Necas hat sie praktisch ausgeschlossen. Da wirkt es nachgerade rührend, daß Bundeskanzlerin Angela Merkel nach ihrem Kurzbesuch an der Moldau mitteilen ließ, sie habe sich bei Necas für den Dialog eingesetzt. Die Tschechische Republik wurde 2004 in die „Wertegemeinschaft“ EU aufgenommen – samt den Unrechtsdekreten des Nachkriegspräsidenten Eduard Benesch. Dennoch sagte SL-Sprecher Posselt als Vorredner von Seehofer am Pfingstsonntag, die Heimatvertriebenen seien die Gewinner der europäischen Einigung. Dies sei nicht ohne weiteres nachvollziehbar, entrüsteten sich Zuhörer. Weder von der Bundesregierung noch von der Regierung des „Schirmlandes“ Bayern, geschweige von der EU sei die Eigentumsfrage für eine Politik zugunsten der Vertriebenen genutzt worden, und selbst die den Kurs der SL bestimmenden Kräfte haben eine offene Diskussion verhindert. Das trägt zu einer inneren, bislang kaum wahrgenommenen Spaltung der Volksgruppenvertretung bei.

Zumindest die oberbayerische Bezirksgruppe der SL gibt sich offen kritisch: Die EU habe die Diskriminierung der Sudetendeutschen hingenommen. Auf einem in den Messehallen verteilten Flugblatt geht sie auch mit der von Seehofers CSU mitgetragenen schwarz-gelben Koalition in Berlin ins Gericht: „Obwohl laut Bundeskanzler Helmut Kohl die Eigentumsfrage offen ist, was auch die derzeitige Bundesregierung bestätigt, und die Vertriebenen auf ihr Eigentum nicht verzichten (Rechtsverwahrungen), sieht die Bundesregierung tatenlos zu, wie seit dem 1. Juni 2011 sudetendeutsches Eigentum auf dem freien EU-Markt ohne Rücksicht auf die Alteigentümer angeboten und verramscht wird.“ Das sei eine grundgesetzwidrige Tatenlosigkeit der Bundesregierung.

In den Reden Seeehofers und anderer Sprecher war das kein Thema. Der bayerische Regierungschef zeigte sich ausgesprochen moderat – gegenüber Prag wie gegenüber der Bundesregierung. Lediglich bei zwei umstrittenen Themenkomplexen wurde er deutlich. Seehofer will schon beim nächsten Koalitionsgipfel die Frage eines Vertriebenen-Gedenktages und der Entschädigung deutscher Zwangsarbeiter ins Gespräch bringen. Im übrigen setzt er auf die „Politik des langen Atems“. Es wäre ungerecht, die objektiven Schwierigkeiten zu ignorieren.

Da trifft der SL-Bundesvorsitzende Pany mit seiner Problemanalyse ins Schwarze. Beim Sudetendeutschen Tag 2011 in Augsburg sagte er: „Die gegenwärtige Regierung in Prag ist ja alles andere als stabil, gebeutelt von den Querelen in einer Koalitionspartei, kujoniert von einem Präsidenten, der so europa- wie deutschfeindlich eingestellt ist.“ In der Tat ist es tragisch, daß dieser Satz heute so uneingeschränkt stimmt wie zu Pfingsten 2011. Dies macht nach Pany zugleich deutlich, „wie unglaublich mühsam es ist, das bayerisch-tschechische Feld auf politischer Ebene zu beackern, und wie wenig wir kurzfristige, spektakuläre Erfolge erwarten dürfen“.

Die Hoffnungen ruhen nun auf dem Präsidentenwechsel auf der Prager Burg und einer – möglicherweise – stabileren tschechischen Regierung. Daß noch nie so viele Tschechen, darunter Abgesandte von Parteien, zu einem Sudetendeutschen Tag gekommen sind wie jetzt nach Nürnberg, deutet die SL-Spitze als einen Abbau von Berührungsängsten gegenüber den Vertriebenen. Aber niemand wagt vorauszusagen, wohin die tschechische Politik sich wirklich wendet.

Foto: Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer: Neuer Anlauf für einen Vertriebenen-Gedenktag

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