© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/12 25. Mai 2012

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Man versteht das Gewese um eine wissenschaftliche Ausgabe von Hitlers „Mein Kampf“ beziehungsweise das kommentierte Zurverfügungstellen in den Schulen je länger, je weniger. Auch in dieser Hinsicht war man dermaleinst entspannter. Selbstverständlich lasen wir im Geschichtsunterricht Auszüge, sei es der verbreiteten Quellensammlung, die Werner Conze besorgt hatte, sei es in Walther Hofers Dokumenten. Und Hannah Vogt, schon aufgrund ihrer Biographie keiner Hinneigung verdächtig, hatte bereits 1967 einen Band für die politische Bildung unter dem Titel „Nationalismus gestern und heute“ herausgegeben, da war das Stück aus des Führers Werk ohne viel Federlesen einsortiert: exakt zwischen Albert Schweitzer und Benito Mussolini.

Bildungsbericht in loser Folge XXIV: Ohne Zweifel hat die Leserbriefseite der FAZ längst nicht mehr die alte Bedeutung als Korrektiv der veröffentlichten Meinung, aber manchmal findet doch noch ein Durchblick auf die Realitäten Platz: „Wir würden … in unseren Schulen gerne genügend junge Leute heranbilden, die in der zentralen kommunikationsaffinen Kulturtechnik genügend bewandert sind. Allein, wir müssen möglichst viele Abiturienten produzieren, wir müssen im Sinne des methodischen Wahnsinns Ausschlußkriterien für die gymnasiale Eignung ignorieren, wir müssen dem Inklusionsmodell zum Erfolg verhelfen, wir müssen jede Art von zertifizierter Lese- und Rechtschreibschwäche als nicht hinterfragbares Paradigma anerkennen, wir müssen klagefreudige Eltern aushalten, wir müssen alles, was schier unmöglich ist, gefälligst als besondere pädagogische Herausforderung verstehen, wir müssen im Rahmen des G8-Gymnasiums dafür sorgen, daß von einem Jahr auf das nächste alle Schüler ein Jahr eher reif sind. Wir müssen, wir müssen vor allem eines: dafür sorgen, daß wir Lehrer als Monteure im gesamtgesellschaftlichen Reparaturbetrieb Schule nicht selbst zum allergrößten Reparaturfall werden.“

Stefan Scheil hat unlängst auf eine bemerkenswerte Verschiebung in der Auffassung des Begriffs „Herrenvolk“ hingewiesen, das man heute nur noch als NS-kontaminiert betrachtet. Er wurde aber schon von Max Weber verwendet, und zwar in dem durchaus liberalen Sinn, daß ein „Herrenvolk“ bloß das Volk genannt werden kann, das politisch „reif“ ist und sich selbst zu regieren vermag. Die Anmerkung Scheils könnte in zweierlei Weise ergänzt werden: zum einen dahingehend, daß Weber sonst nur die antiken Israeliten ihrem Selbstverständnis nach als „Herrenvolk der Erde“ bezeichnete, zum anderen so, daß bei Weber nicht nur die Sprache Nietzsches durchscheint, sondern auch die Anglophilie des gebildeten Deutschen, hier der Traum einer deutschen gentry, frei von Autoritätsgläubigkeit. Gerade diese Verknüpfung zwingt dann aber zu dem Hinweis, daß es seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – und teilweise vor Darwins Wirkung – ein Wortfeld im Englischen gab, das Begriffe wie master race oder imperial race in einem Sinn verwendete, der durchaus demjenigen entsprach, den später Hitler, Himmler usw. meinten, wenn sie von „Herrenvolk“ sprachen.

Es gibt in Quedlinburg, im Innenhof eines der schön restaurierten Häuser, ein Geschäft mit Angeboten für bookaholics. Da findet man alles mögliche, das der Bücherfreund mehr oder weniger gut gebrauchen kann oder das, was nur sein Herz erfreut, weil er auf die Berührung von Maroquin, Leinen, geprägtem Karton, Papier oder Buchbindergerüche nicht verzichten mag. Für solche Nischenprodukte gibt es offenbar einen Markt, der mit einer tendenziell wachsenden Vielfalt von Angeboten versorgt wird. Trotzdem bleibt das Empfinden, zu einer aussterbenden Spezies zu gehören. Dann wieder schämt man sich der trüben Stimmung, wenn man ein paar Straßen weiter das alteingesessene Antiquariat betritt, der Inhaber längst vom Alter gebeugt, aber unverkennbar stolz auf die Familientradition und darauf, den Besitz sogar durch die DDR-Zeit gerettet zu haben.

Das Verbot von „Mein Kampf“ ist kaum anders zu erklären, als durch die Annahme besonderer, dem Inhalt einwohnenden Verführungskraft. Ähnliches hat offenbar noch nie jemand in bezug auf die Werke Lenins, Stalins, Maos, Ulbrichts oder Honeckers gemutmaßt. Jedenfalls ist weder deren Herstellung noch Vertrieb, noch Ausleihe an Minderjährige untersagt. Man wüßte gern Genaueres über diese Sorge, sonst wäre von einer fast abergläubischen Scheu zu sprechen. – In dem Zusammenhang fällt mir stets die Bibliothekarin ein, die mir zwei Bände aus den späten dreißiger Jahren nicht aushändigen wollte, nachdem sie einen Sperrvermerk der britischen Besatzungsbehörde von 1946 entdeckt hatte. Endlich war sie doch zu erweichen, zögerte aber erneut bei der Übergabe und warnte gedehnt und mit zweifelndem Blick auf die Einbände: „Ist aber so’n Nazirot!“

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 8. Juni in der JF-Ausgabe 24/12.

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