© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/12 18. Mai 2012

Der Flaneur
Besuch in der Provinz
Ellen Kositza

Naumburg ist einerseits wunderschön, andererseits provinziell. Die zwei Frauen mittleren Alters, samt Rucksäckchen per Zug aus der Weltstadt aufgebrochen, ahnten derlei, nicht aber sämtliche Implikationen. Ob es wahr sein könne, fragen sie mich, daß man von hier nur einmal stündlich die Gelegenheit habe, zur Sektkellerei nach Freyburg zu gelangen?

Es ist eigentlich eine rhetorische Frage. Sie stehen ja neben dem Fahrplan. „Den Bus dürften Sie äußerst knapp verpaßt haben“, bekunde ich mein Mitleid und schlage einen Fußmarsch vor. Dann kämen sie ungefähr parallel mit dem nächsten Bus an und hätten noch mehr vom Tal zwischen Saale und Unstrut. Nein und noch mal nein: Weder wolle man laufen noch habe man den Bus verpaßt.

Den Einstieg hätten sie aus gleichsam weltanschaulichen Gründen abgelehnt. Der Bus habe die großflächige Werbung einer Autowerkstatt getragen: Vorne seien mehrere Frauentorsos mit Büstenhalter abgebildet gewesen, hinten eine riesige Bohrmaschine und ein Schraubgerät, dazwischen der Spruch: „Wir haben für jeden Bedarf ein Ersatzteil.“

Wolle man mit einem solchen Verkehrsmittel kutschiert werden? Nein, und das sei ja wirklich extrem, sekundiere ich den beiden, die nun erwägen, ein Taxi zu nehmen. „Komm, die Stunde haben wir noch“, meint die Gelassenere mit der Wasserflasche in der Hand, als gerade der Bus für die Gegenrichtung heranrollt. Wieder mit Reklame, wieder provinziell! „Miet mich! Kauf mich! Ich bin noch frei!“, so wirbt eine Wohngenossenschaft.

Als Vehikel der Botschaft dient hier eine überdimensionierte Blondine – vielmehr ihr anschaulich dargebotenes Dekolleté. Meine Gesprächspartnerinnen drohen zu hyperventilieren. Die eine nimmt der anderen die Flasche aus der Hand, um den provinziellen Sexismusmief herunterzuspülen. Taxi! Die Entscheidung fällt einstimmig aus zwei Mündern. „Fahren Sie doch mit, falls Sie die gleiche Richtung haben!“ Zehn Minuten später stehe ich bei Rotkäppchen in Freyburg.

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