© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/12 18. Mai 2012

Auch nur ein Vorvater
Der Marburger Philosoph Manfred Kühn präsentiert die erste moderne Biographie Fichtes
Gerd Schlüter

Vor fünfzig Jahren begonnen, kam in diesem Frühjahr, pünktlich zum 250. Geburtstag des Denkers, das editorische Großprojekt der Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zum Abschluß. Wer die 42 Bände im heimischen Regal stets griffbereit haben möchte, muß dafür indes happige 10.000 Euro zahlen, was den Abnehmerkreis wohl auf Staats- und Universitätsbibliotheken eingrenzt.

Der Stuttgarter Verlag Frommann-Holzboog gibt sich trotzdem davon überzeugt, es würden von der Edition „starke Impulse auf die Beschäftigung mit Fichtes Philosophie“ ausgehen. Bereits seit den 1970ern habe die Ausgabe internationale Tagungen angeregt, die Gründung von Fichte-Gesellschaften weltweit inspiriert und einen „Aufschwung des Fichteschen Gedankens“ bewirkt. Ob der schwer verständliche deutsche Idealist wirklich diese Konjunktur erlebt, die die enthusiastische Verlagswerbung beschwört, sei dahingestellt. Unbestreitbar ist jedoch, daß die stattlichen Großaktav-Bände, die neben Fichtes Werken auch die nachgelassenen Schriften, die Briefe und Kollegnachschriften umfassen, endlich die solide Basis für eine moderne Biographie des Philosophen bilden.

Die hat lange gefehlt, denn im deutschen Sprachraum kann man nur auf ein paar schmale, inzwischen auch schon angejahrte Monographien wie die von Joachim Widmann (1982), Wilhelm G. Jacobs (1984), Heinz Schuffenhauer (1985) und Peter Rohs (1991) zurückgreifen, während die umfassendste und gründlichste Darstellung, die zwei Bände Xavier Léons über „Fichte et son temps“ (1922/27), nie übersetzt wurde. Darum schließt der an der Boston University und der Universität Marburg lehrende deutsche Philosophiehistoriker Manfred Kühn mit seinem beinahe 700 Seiten starken Versuch, Leben und Werk Johann Gottlieb Fichtes den Lesern des 21. Jahrhunderts zu präsentieren, nicht nur eine Marktlücke, sondern er ist auch der dankbarste Nutznießer der editorischen Kärrnerleistung seiner Kollegen.

Kühn, in dessen Bibliographie Léons Opus übrigens fehlt, ist kein Freund Fichtes. Er ist daher nach Kräften bemüht, den Denker zu entzaubern. Das beginnt mit der kritischen, durchaus angebrachten Überprüfung einiger biographischer Legenden zu Herkunft, Jugend- und Studienzeit des aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Sohnes eines Oberlausitzer Bandwirkers, der 1794 ohne Promotion und Habilitation zum Jenaer Professor aufstieg. Der Studienabbrecher Fichte, der Kandidat der Theologie, der sich als Hauslehrer verdingt, muß sich von Kühn vorhalten lassen, in keiner Wissenschaft Bescheid gewußt und trotzdem das größenwahnsinnig wirkende Unterfangen einer alle Wissenschaften fundierenden „Wissenschaftslehre“ in Angriff genommen zu haben.

Diese Rücknahme von Kants Kritizismus durch die mit Fichte einsetzende, von Schelling und Hegel – gleichfalls abtrünnigen Theologen – fortgeführte Anstrengung, das Denken im Absoluten zu verankern, steht dem angelsächsischen Pragmatismus, an den sich Kühn anlehnt, diametral entgegen.

Deshalb zeichnet er die vielen Anläufe, die Fichte zwischen 1793 und 1814 unternahm, um seiner aus dem „absoluten Ich“ deduzierten Wissenschaftslehre eine immer klarere Fassung zu geben, zwar fleißig nach, fragt aber nicht, welchen weltanschaulichen Bedürfnissen diese „geschichts- und erfahrungsvergessenen Abstraktionen“ einer „wunderlichen Dialektik“ entsprangen und welchen Orientierungshunger, welche Sinnerwartungen sie bei den Zeitgenossen und den ihnen nachfolgenden Generationen befriedigte, die Fichte in den Rang eines Klassikers erhoben, der „ewige Wahrheiten“ vermittelt.

Die Mühsal, die Kühn sich und seinen Lesern bereitet, um den Theoretiker Fichte verständlich zu machen, wäre besser aufgebracht worden, den primär praktischen Impetus der auf die „Tathandlung“ festgelegten überindividuellen Entität des Absoluten zu erfassen. Fichte selbst, der 1792 mit einer Religionskritik debütierte und sich 1793 in zwei politischen Essays als Sympathisant der Französischen Revolution zu erkennen gab, hat den Primat der praktischen vor der theoretischen Philosophie früh betont, wenn er seine Philosophie nicht nur als „System der Freiheit“ charakterisierte, sondern ausdrücklich in Beziehung zur politischen Umwälzung Frankreichs setzte: „wie jene Nation von den äußern Ketten den Menschen losreis’t, reis’t mein System ihn von den Feßeln der Dinge an sich des äußern Einflußes los, die in allen bisherigen Systemen selbst in dem Kantischen mehr oder weniger um ihn geschlagen sind, u. stellt ihn in seinem ersten Grundsatze als selbständiges Wesen hin“.

Leider unterläßt es Kühn, sich dieser von ihm zitierten und mit plastischen zeitgenössischen Zuschreibungen wie „Robespierre der Metaphysik“ oder „Napoleon der Philosophen“ bekräftigten Selbstdeutung als Leitseil seiner Biographie zu bedienen. Folglich gleitet sie gerade für die ohnehin relativ knapp gehaltene zweite Lebenshälfte, die den heute allein noch präsenten „preußischen Staatsprediger“ Fichte zeigt, den Geschichtsphilosophen und Verfasser der „Reden an die deutsche Nation“ (1808), in die Niederungen bundesrepublikanischen Ressentiments und des für seine Generation, der Autor ist Jahrgang 1946, typischen deutschen Selbsthasses ab.

Darum glaubt er in den gegen die französischen Besatzer gehaltenen „Reden an die deutsche Nation“ Vorgriffe auf Heinrich Himmlers „Generalplan Ost“ zu entdecken, wie überhaupt im ganzen Werk, „dieser Art von modernem Platonismus“, „manche Ideen des Nationalsozialismus angelegt“ seien, so daß er Fichte nach üblichem Schema unter die „Vorväter des unseligen deutschen Nationalismus“ und somit unter die Wegbereiter Adolf Hitlers einkastelt. Da Kühn sich bei solchen brachialen Reduktionen nicht mit den lästigen Details der wahren Rezeptionsgeschichte befassen muß, entgehen ihm jüngere Arbeiten wie die des am Potsdamer Kollegium für Jüdische Studien tätigen Manfred Voigts, der Fichte in einer fulminanten Untersuchung (2003) als „Propheten des Kultur-Zionismus“ exponierte, als Ideenlieferanten für Martin Buber und Nachum Goldmann und damit als einen der geistigen Väter Israels.

Manfred Kühn: Johann Gottlieb Fichte. Ein deutscher Philosoph. C. H. Beck Verlag, München 2012, gebunden, 682 Seiten, Abbildungen, 29,95 Euro

Foto: Ludwig Burger, „Fichte / Schleiermacher / Jahn / Arndt“, Holzstich (1825–1884): „Vorväter des unseligen deutschen Nationalismus“

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