© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/12 18. Mai 2012

Individualität in der Masse
„Freundlich ausgestattet“: Vor hundert Jahren erschienen die ersten Bände in der Insel-Bücherei
Daniel Napiorkowski

Daß bei Büchern nicht allein der Inhalt entscheidend ist, beweist sehr anschaulich Rainer Maria Rilkes Prosadichtung „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“. Die Erstauflage von 300 Exemplaren, erschienen 1906, verkaufte sich nur sehr schleppend, die Resonanz blieb insgesamt bescheiden. Als hingegen der Verleger Anton Kippenberg, Geschäftsführer des in Leipzig niedergelassenen Insel-Verlages, Rilkes „Cornet“ im Mai 1912 als ersten Band einer neuen Buchreihe, der sogenannten „Insel-Bücherei“, wieder auflegte, war die Wirkung gewaltig: Die Startauflage von 10.000 Exemplaren wurde innerhalb kürzester Zeit verkauft und das Buch mußte sofort nachgedruckt werden. Auch die anderen elf Bändchen der ersten Staffel der Insel-Bücherei – darunter Bismarcks „Vier Reden zur äußeren Politik“, Hofmannsthals „Tod des Tizian“ und Platos „Verteidigung des Sokrates“ – feierten große Erfolge.

Die Insel-Bücherei war ein bereits seit längerem vorbereitetes Unternehmen, das, so die damalige Ankündigung im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, „freundlich ausgestattete gebundene Bändchen umfassen“ sollte, die je fünfzig Pfennig kosten. Inhaltlich sollte die Reihe die „gesamte Verlagstätigkeit widerspiegeln“.

Die bescheiden anmutende Verlagsbezeichnung „freundlich ausgestattet“ steht tatsächlich für eine Aufmachung, wie sie seinerzeit – zumindest für Bücher in diesem Preissegment – beispiellos war. Herausragende Kenner der jeweiligen literarischen Materie übernahmen die Herausgabe, kommentierten die Texte, versahen sie mit Anmerkungen, Namensverzeichnissen und Sacherklärungen. Zu dieser allein schon bemerkenswerten editorischen Sorgfalt kam eine buchkünstlerische Gestaltung hinzu, die andere Massenbuchreihen – etwa die Reclam-Hefte – markant kontrastierte. Die Schrifttypen entsprachen nämlich dem Charakter des jeweiligen Textes, der Druck erfolgte auf holzfreiem Papier, und die Bindung in Pappe war – damals alles andere als selbstverständlich – solide.

Ein besonderer Glücksgriff war die Einbandgestaltung, die aus farbenfrohen, heiteren und dennoch stilvoll wirkenden Musterpapieren bestand. Setzten sich die Muster anfangs ausschließlich aus Vorlagen der italienischen Kollektion Rizzi zusammen, wurden die Themenbereiche im Laufe der folgenden Jahre um zahllose Varianten – von Linien über Sternchen und Farbtupfer bis zu Blüten und Herzreihen – erweitert. Trotz individueller Strukturierung der Muster hatte die Einbandgestaltung schnell Wiedererkennungswert und betonte die Zusammengehörigkeit der Reihe.

Nicht nur die Optik überzeugte, auch die inhaltliche Vielfalt der Reihe beeindruckte. Das Spektrum reicht dabei von Schiller bis Shakespeare, von Goethe bis Dostojewski, von Hegel bis Nietzsche, von Plato bis Konfuzius, von Beethoven bis Wagner, von Friedrich dem Großen bis Wilhelm I., von Treitschke bis Adorno, vom „Ostpreußischen Sagenbuch“ bis zu „Altdänischen Heldenliedern“, von Benn bis Kafka, von Hesse bis Heuss.

Natürlich gingen Geschichte und Zeitgeist auch an der Insel-Bücherei nicht spurlos vorbei: Stellten im Kaiserreich und im Ersten Weltkrieg noch konservative und deutschpatriotische Werke den Verlagsschwerpunkt dar, wurden in der Weimarer Republik vermehrt internationale Autoren in die Reihe aufgenommen. Im Dritten Reich mußten die vom Regime als „unerwünscht“ eingestuften Schriftsteller aus dem Programm genommen werden; im übrigen machte Kippenberg aber politisch so geringe Konzessionen wie möglich und legte Schwerpunkte auf klassische und unverbindliche Themen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Insel-Verlag einer der ersten Verlage, dem die sowjetische Besatzungsmacht die Genehmigung zur Wiederaufnahme der Produktion erteilte. Parallel zu der Niederlassung in Leipzig gründete Kippenberg 1945 in Wiesbaden eine Zweigstelle des Verlages, die 1960 nach Frankfurt am Main verlegt wurde. Das Programm der Insel-Bücherei in der DDR umfaßte anfangs zum großen Teil nur Autoren des Sozialistischen Realismus und der Sowjetliteratur, ab den sechziger Jahren wurden jedoch verstärkt auch westliche Titel aufgenommen.

Im Verlagsprogramm der Bundesrepublik bildeten hingegen deutsche Expressionisten und zeitgenössische westliche Schriftsteller den Schwerpunkt. Erst die Wiedervereinigung der deutschen Teilstaaten führte wieder zu einer einheitlichen Programmreihe. Seit 2010 residiert der Insel-Verlag nun in Berlin; in der Insel-Bücherei, die nach wie vor eine feste Säule des Verlages bildet, erscheinen derzeit neben Klassikern vor allem kleinere, bislang unentdeckte Werke.

Der Buchhistoriker Georg Kurt Schauer nannte die Insel-Bücherei eine „Vorschule der Bibliophilie“. Tatsächlich dürften Titel der Reihe für viele junge Leser den Grundstock ihrer späteren Bibliothek bilden. Darüber hinaus sind zahlreiche Sonderdrucke, Kriegs-editionen und sonstige limitierte oder rar gewordene Ausgaben antiquarisch begehrte Sammlerobjekte. Das seltenste Insel-Bändchen ist wohl die Nummer 313/2, „Gedichte des deutschen Barock“. Als nämlich bei einem alliierten Luftangriff auf Leipzig das Verlagshaus samt Lager in der Nacht vom 3. zum 4. Dezember 1943 völlig zerstört wurde, fiel auch die gesamte Auflage des Titels den Flammen zum Opfer. Lediglich knapp 50 vorab versandte Exemplare sind erhalten geblieben.

Am 23. Mai nun wird die Insel-Bücherei hundert Jahre alt. Mit einer beachtenswerten Standfestigkeit überlebte die inzwischen auf über 1.600 Titel angewachsene Reihe Kriege und Systeme, Moden und Strömungen, behielt dabei zumindest ein gewisses Maß an politischer und geistiger Unabhängigkeit und bürgt auch heute noch für eine breite und verläßliche, in ansprechender Ausstattung herausgegebene und zu einem fairen Preis angebotene Auswahl an Werken der deutschen und der Weltliteratur.

 

Ausstellungen zum Jubiläum

In der Kieler Universitätsbibliothek, Leibnizstraße 9, ist bis zum 15. Juli die Ausstellung „18,5 x 12 – Die Insel-Bücherei – 100 Jahre Vielfalt in einem Format“ wochentags von 9 bis 22 Uhr, samstags bis 20 Uhr, sonntags von 10 bis 18 Uhr, zu sehen.

Bis zum 26. August zeigt das Deutsche Literaturarchiv Marbach, Schillerhöhe 8-10, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr die Ausstellung „1912. Ein Jahr auf der Insel“ zu Rainer Maria Rilkes „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ als Band 1 der Insel-Bücherei.

www.insel-buecherei.de

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