© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/12 11. Mai 2012

Lobgesänge auf den Wutbürger
Heiner Geißler beklagt in einer Rundum-Philippika mangelnde Transparenz und Bürgerferne der Politik
Rolf Dressler

Heiner Geißler hat ein neues Buch geschrieben. In der Grundgedankenführung unverwechselbar scharfkantig, bissig, angriffslustig – genauso eben, wie man ihn aus Jahrzehnten kennt, den streitbaren Geist von fester christlicher Prägung. Voller Schwung schlägt sich Heiner Geißler auf die Seite derer, denen das abgehoben-selbstgefällige Gebaren der herrschenden Politik – sehr zu Recht – mittlerweile ganz gehörig gegen den Strich geht. Geißler geißelt den „ökonomischen Absolutismus“ des heutzutage obwaltenden Kapitalismus, der zunehmend aus dem Ruder laufe, ebenso wie den verbreiteten Hang zu autoritären Handlungsweisen, nun sogar auch in den Regierungs- und Machtzentralen maßgeblicher westlich-demokratisch verfaßter Staaten, Deutschland ausdrücklich eingeschlossen.

Der fortschreitenden Erosion selbst elementarer Grundrechte könne nur Einhalt geboten werden durch energischen „bürgerlichen Widerstand“ und eine umfassende neue „Aufklärung jetzt“. Denn: Die Zeit der angeblich „alternativlosen“ Basta-Politik à la Gerhard Schröder und Angela Merkel ist vorbei – mithin sei der sogenannte Wutbürger nachgerade ein Glücksfall für jeden, der eine solche neue Aufklärung voranbringen wolle. Davon ist Heiner Geißler überzeugt. Deshalb empfiehlt er als Rat- und Richtungsgeber Immanuel Kant, der ihm als „unser größter Philosoph“ überhaupt gilt. Kant bezeichnete Aufklärung als den Ausgang, also das Herausfinden und Herauslösen des Menschen aus dem selbstverschuldeten Unvermögen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, und zwar ohne dazu von anderen angeleitet oder angetrieben zu werden. „Sapere aude – wage (eigenständig) zu denken!“ Folgerichtig überschreibt Heiner Geißler sein jüngstes Buch mit eben diesem Kantschen Wahlspruch der Aufklärung.

An Zeichen der Zeit und des irrlichternden Zeitgeistes ist nun freilich kein Mangel in diesen Jahren. Mindestens acht von zehn Bürgern bekunden, sie hätten das Vertrauen in Politik und Politiker verloren. Auf gerade noch siebzig Prozent sackte die Beteiligung an der letzten Bundestagswahl im Jahre 2009 durch. (Volks-)Parteien und Gewerkschaften wie auch die Kirchen verlieren dramatisch wie nie zuvor an Mitgliedern. Der traurige Beginn dieses Vertrauensschwundes, sagt der langjährige CDU-Spitzenpolitiker Heiner Geißler dankenswert offen, lasse sich genau datieren: Im Jahre 1984 sei der Versuch des damaligen CDU-Bundeskanzlers Helmut Kohl gescheitert, mittels eines speziellen Amnestiegesetzes nicht nur die Geber, sondern auch die Empfänger von Parteispenden, sprich: die beteiligten Politiker selbst, jedweder Strafverfolgung zu entziehen – ein in der Tat verheerendes Signal, das bis heute nachwirkt. Und parallel dazu geht es seither mit der Zustimmung zum freiheitlich-westlichen Wirtschaftssystem steil bergab.

Schon seit Ende der siebziger Jahre stellt das Meinungsforschungsinstitut Allensbach – übrigens auf eine Anregung Heiner Geißlers hin – regelmäßig die Frage, ob die Bürger dem Satz zustimmen „Wenn es der Wirtschaft gutgeht, dann geht es auch mir gut“. Anfangs antworteten acht von zehn der Befragten mit „Ja“, heute aber ist es nicht einmal mehr jeder fünfte. Geißler ortet die Ursache dafür in dem „Triumph eines überbordenden Neoliberalismus“, erwähnt aber leider nicht, daß nach aller (wirtschafts-)geschichtlichen Erfahrung letztlich nur funktionierendes kapitalistisches Wirtschaften Massenwohlstand und sozialen Frieden zu begründen und auf Dauer zu sichern vermag.

Zugunsten der von ihm erhofften „neuen Aufklärung“ baut Geißler eher schwammig auf eine nebulöse „öffentliche Meinungsmacht der Weltbürger“. Jeweils bevor Endgültiges beschlossen werde, müsse die Politik gezwungen werden zu einem bürgeroffenen Faktencheck, fordert Heiner Geißler – hier ganz Propagandist jener linksgewickelten Aktivistentruppe mit dem sinnfälligen Namen „Attac“, deren Mitglied er seit längerem ist.

Als absolut nicht hinnehmbar kritisiert Heiner Geißler den Islam, der bis heute im finsteren Mittelalter verharre. Sogenannte Ehrenmorde, Züchtigungen, Folter, Steinigungen und erst recht die Beschneidung von Abermillionen junger Mädchen und Frauen – davon mutmaßlich mindestens 30.000 sogar hier in Deutschland, mitten unter uns – brandmarkt er geradeheraus als „bestialische Grausamkeiten“, als blanken Terror. Und im Angesicht der entsetzlichen Unterdrückung der Frauen, noch dazu unter Berufung auf den Koran, fragt Heiner Geißler: „Wo bleibt da die Aufklärung, der Schutz der Menschenrechte insbesondere auch bei den Grünen, den Linken?“ In keiner anderen Religion werde mit dem Namen Gottes alltäglich derart archaisch-gewaltsam Mißbrauch betrieben wie im Islam.

Damit zielt er offenbar auf all diejenigen, die zwar für die Rettung von Bechsteinfledermäusen oder Juchtenkäfern allenthalben erbost auf die Straße gehen, sich in Sachen Islam aber duckmäuserisch-ignorant in eisernem Nicht-Protest üben. Eines indes bleibt durchgängig höchst unbefriedigend an Geißlers feuriger Rundum-Philippika: Wie eigentlich und mit welchem Politikerpersonal meint er grundlegend gegensteuern zu können, vor allem auch um der bestürzend fortschreitenden Entmachtung der Parlamente durch die herrschende Politik selbst (!) Einhalt zu gebieten? Wutbürger zu bejubeln – das jedenfalls ist garantiert zu wenig.

Heiner Geißler: Sapere aude. Warum wir eine neue Aufklärung brauchen. Ullstein Verlag, Berlin 2012, gebunden, 160 Seiten, 16,99 Euro

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