© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/12 11. Mai 2012

Kämpfe um die Deutungshoheit
Geschichtspolitik in Spanien: Streit um das „Diccionario Biográfico Español“
Michael Ludwig

In diesen Wochen, Monaten und sicherlich auch noch in den nächsten Jahren geht es für viele Spanier ums nackte wirtschaftliche Überleben. Werden meine Familie und ich, so die bange Frage, die Krise, die dem öffentlichen und privaten Leben immer tiefere und schmerzhaftere Wunden schlägt, einigermaßen unbeschadet überstehen? Man möchte meinen, daß diese existentielle Bedrohung keinen Raum mehr läßt für moralisch aufgeladene Fragen, für Fragen beispielsweise, die sich mit den Erinnerungen eines ganzen Volkes verknüpfen. Und dennoch schwelen sie weiter unter der Oberfläche der täglichen Sorgen, bis sie ein Satz, eine Zeitungsmeldung oder Film im Fernsehen ins Bewußtsein treten läßt.

Unlängst war dies wieder der Fall – die Presse des Landes stellte die Frage, ob das Diccionario Biográfico Español (das spanische biographische Wörterbuch) nicht besser eingestampft werden soll, weil es der jüngsten Vergangenheit nicht gerecht wird. Konkret geht es vor allem um die biographische Notiz über Francisco Franco (1892–1975), an dessen Person sich immer noch die Geister scheiden, und so ist auf der Iberischen Halbinsel ein Phänomen erkennbar, das uns Deutschen über alle Maßen vertraut ist – je mehr sich die Vergangenheit von uns entfernt, desto fordernder tritt sie uns gegenüber.

Begonnen hatte die Geschichte vor zwölf Jahren, als sich die Königliche Akademie für Geschichte dazu entschloß, ein Nachschlagewerk zu schaffen, in dem alle wichtigen Personen Spaniens aufgeführt und damit vor dem Vergessen bewahrt werden sollten. Die Akademie sammelte rund 5.500 Autoren um sich, die 43.000 Biographien verfaßten. Es war in der Tat eine Mammutaufgabe, die von den Wissenschaftlern bewältigt wurde – die erste Nennung datiert im 6. Jahrhundert vor Christus, man wühlte sich durch die Jahrtausende bis zum Jahr 1950, wer später geboren wurde, aber dennoch Prominenz erlangte, blieb ungenannt. Der Staat subventioniert das Diccionário mit rund 6,4 Millionen Euro.

Vor einem Jahr wurden die ersten 25 der insgesamt 50 Bände in Anwesenheit von König Juan Carlos und der damaligen sozialistischen Kulturministerin Ángeles González-Sinde vorgestellt. Die Freude über das scheinbar gelungene Werk währte nur kurz – ein findiger Reporter der linken und inzwischen eingegangenen Boulevardzeitung Público las den Text über Franco nach und ließ seiner Empörung darüber freien Lauf. Der Beitrag sei einseitig, pseudohistorisch und nichts weiter als eine „Schande“. Auch die linksliberale Tageszeitung El Pais hieb in diese Kerbe und stellte die Frage, ob die Behauptung des Autors, der Generalisimo habe „ein autoritäres Regime, aber kein totalitäres“ errichtet, wissenschaftlich haltbar sei. Sie fand die Stelle, Franco sei ein tapferer Krieger gewesen („…bald wurde er wegen jener kalten Kühnheit berühmt, die er auf dem Schlachtfeld zeigte“), unangemessen und unpassend.

Nun kann man gewiß über die eine oder andere biographische Stelle streiten, aber die Linke nutzte die Gelegenheit, ihr unliebsame Passagen zu diskreditieren. Unter der ironischen Überschrift „Einige Perlen aus dem umstrittenen Wörterbuch“ zitierte El Pais beispielsweise genüßlich die Stelle über Josemaria Escriva de Balaguer, dem Gründer von Opus Dei: „An einem Weihnachtstag des Jahreswechsels 1917/1918 sah er Abdrücke im Schnee, es waren die Spuren einer barfüßigen Nonne des Karmeliter-Ordens. Sie lösten in ihm eine starke innere Erschütterung aus, was dazu führte, daß sein spirituelles Leben an Kraft gewann. Im Gefühl dieses ersten Omens, das er als einen göttlichen Ruf deutete, entschied er sich, Priester zu werden.“ Wer das inzwischen weitgehend laizistische und teilweise sogar kirchenfeindlich gewordene Spanien kennt, weiß, daß dies nichts anderes als Häme ist.

Die nun aktuell aufgeworfenen Fragen, ob das Nachschlagewerk, wie angekündigt, überarbeitet und der Staat überhaupt noch weitere Gelder für seine endgültige Realisierung bereitstellen soll, münden in eine weitere Spur, die ebenfalls zurück in die Vergangenheit führt, nämlich zum Gesetz zur historischen Erinnerung (Ley de Memoria Historica). Dieses Ende 2007 im Parlament verabschiedete Regelwerk dient der „Anerkennung und Erweiterung der Rechte derjenigen, die während des Bürgerkriegs und der Diktatur Verfolgung und Gewalt erleiden mußten“. Nun kann man sich natürlich fragen, ob historische Erinnerung, die vor allem ein Akt des einzelnen ist, zum Gegenstand eines Gesetzes werden kann, aber die Regierung Zapatero verfügte in diesem Zusammenhang eine Reihe ganz konkreter Bestimmungen. So sollen die Opfer der franquistischen Justiz finanziell entschädigt und moralisch rehabilitiert werden, die vielen Hingerichteten (es dürften weit über 100.000 sein) aus den anonymen Massengräbern geborgen und offiziell bestattet werden.

Kann man diesen Schritten die moralische Berechtigung nicht absprechen, so war ein weiterer Gesetzespunkt durchaus umstritten. In ihm wurde die Entfernung von Symbolik und Monumenten aus dem öffentlichen Raum angeordnet, die „einseitig eines der beiden kriegführenden Lager“ verherrlichen. Nachdem in der Ära des siegreichen Generalisimo ohnehin alle Überbleibsel der Linken getilgt worden waren, blieb in der Gegenwart nur noch die Entsorgung des franquistischen Erbes. Dies wiederum ließ die konservative Opposition protestieren, die der Regierung vorwarf, nun eine erneute Spaltung der Gesellschaft zu betreiben. Die Linke wolle sich auf Kosten der gemeinsamen Vereinbarung, die Vergangenheit ruhen zu lassen und nach vorne zu blicken, profilieren. Umstrittene Persönlichkeiten wie der frühere Richter Baltasar Garzon, der keine Gelegenheit ausgelassen hat, den Bürgerkrieg mit seinen blutigen Erscheinungen immer wieder in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu stellen, geben diesen Vorwürfen recht.

Zur historischen Erinnerung gehört nämlich auch, daß das Regime von Francisco Franco nach dessen Tod keine Totalniederlage erlitten hat wie so viele andere Diktaturen. Im Gegenteil – ohne das Entgegenkommen des fortschrittlichen Lagers der Franco-Anhänger wäre die Demokratisierung des Landes 1975 womöglich gescheitert. Den Preis, den die Linke für die Handreichung der franquistischen Elite zahlen mußte, waren eine Generalamnestie und das Versprechen, eine Politik ohne Rückgriff auf die Zeiten der Diktatur zu betreiben.

Ob dieses Fundament, das bislang die spanische Innenpolitik ohne größere Verwerfungen getragen hat, sich auch in Zeiten der wirtschaftlichen Not bewähren wird, muß sich zeigen. Nichts wäre fataler, als ein erneutes Aufbrechen des alten Gegensatzes zwischen Rechts und Links. Es würde das Land einer wahren Zerreißprobe aussetzen.

 

Die Diktatur Francos in Spanien

1939 bis 1975

Der spanische General Francisco Franco (1892–1975) wurde 1936 schnell zum Kopf eines Staatsstreichs gegen die linke „Volksfront“-Regierung in Madrid. Nach dem Sieg im dreijährigen, äußerst unerbittlich geführten Bürgerkrieg übernahm „El Caudillo“ („Der Führer“) diktatorisch die Macht. Im Zweiten Weltkrieg behauptete Franco trotz der Nähe zu seinen Bürgerkriegsverbündeten Mussolini und Hitler die Neutralität Spaniens und beschränkte sich auf symbolische Gesten, wie der Entsendung der „Blauen Division“ gegen die Sowjetunion. In der bis 1976 alleinregierenden Staatspartei „Movimiento Nacional“ verschmolzen die revolutionär-faschistische „Falange“ ebenso wie traditionalistisch-konservative Kräfte, die starken Rückhalt in der katholischen Kirche Spaniens, im Militär und beim Großgrundbesitz hatten. Bereits 1947 wandelte Franco Spanien zur Monarchie um, der Thron blieb jedoch bis auf weiteres vakant. Mit dem „Staatsorganisationsgesetz“ von 1967 leitete der autoritär regierende Herrscher des wirtschaftlich prosperierenden Landes die monarchische Nachfolge durch Juan Carlos I. ein, die nach Francos Tod per Verfassungsreferendum 1978 zur parlamentarischen Demokratie bestätigt wurde. 2002 verurteilte das spanische Parlament einstimmig die franquistische Diktatur.

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