© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/12 11. Mai 2012

Die Wikipedia-Welt und ihre Bewohner
Programmierte Langeweile
Felix Dirsch

Die Spatzen pfeifen von den Dächern, daß wir uns inmitten eines politischen Paradigmenwechsels großen Ausmaßes befinden. Schemenhaft kristallisieren sich, sowohl national wie international, einzelne Bestandteile heraus. Julian Assange hält mit seinen Wikileaks-Aktionen die mächtige Staatenwelt in Atem. Der liberalistische Computer-Anarchist will eine gerechtere Welt durch die Offenlegung von Informationen schaffen. Da seiner Meinung nach alle Institutionen wichtige Interna verbergen und grundsätzlich rechtswidrig handeln, ist Publizität eine Form der Erleuchtung, der Vorbote einer besseren Welt.

Es sieht so aus, als habe die alte Aufklärungsutopie zeitgemäße Konturen bekommen. Die Piratenpartei ist kurz davor, etliche Landtage und den Bundestag zu entern. Wikipedia stellt eine Wissensressource dar, die den alten Brockhaus längst schon auf die Plätze verwiesen hat. Die Revolution kommt diesmal auf unspektakulären Sohlen daher. Einer der Schlüsselbegriffe, der die Wiki-Republik in besonderer Weise charakterisiert, ist der der Transparenz. Wiki-Aktivisten auf allen Ebenen fordern das Ende aller staatlichen und institutionellen Geheimniskrämerei.

Historische Bezüge sind mit Händen zu greifen. Bereits im 18. Jahrhundert formiert sich eine erstarkende bürgerliche Schicht, die der staatlichen Macht den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Jürgen Habermas) entgegensetzen will. Der öffentliche Diskurs ist die Waffe der an sich Ohnmächtigen. Hier die Sonderinteressen der Herrschenden, dort das Gespräch derjenigen Privatleute, die das Beste für das Gemeinwohl erreichen wollen – so lautet der simple Kontrast, der im Werk Rousseaus und Kants erstmals zum Vorschein kommt und in unseren Tagen von Jürgen Habermas medienwirksam aufgegriffen wird.

Wie sieht nun die sich abzeichnende Wiki-Republik aus? Wätzold Plaum hat jüngst eine bemerkenswerte Schrift vorgelegt. „Die Wiki-Revolution“ umreißt die derzeitigen Umbrüche und ordnet sie in größere Zusammenhänge ein. Gemäß der Ansicht des promovierten Mathematikers basiert das neue politische Modell primär auf drei Säulen: Transparenz, Pluralität und Subsidiarität. Um es vorwegzunehmen: Plaums Erörterungen sind außerordentlich anregend. Er wagt es, Trivialitäten auszusprechen, die üblicherweise mit den Tabus der politischen Korrektheit belegt sind. So bezeichnet er etwa die allgegenwärtige Reductio ad Hitlerum als Arbeitsbeschaffung für vergangenheitsfixierte Linke. Grundsätzlich lassen sich die reichhaltigen geistes- und kulturgeschichtlichen Implikationen des Internets in die bisherigen Erfahrungen mit der Technik einordnen. Wieder einmal bestätigt sich Carl Schmitts Diktum, die Technik, wenn sie denn die Zentralmacht des Daseins bilde, führe zu „Neutralisierung“ und „Entpolitisierung“ des Zusammenlebens.

Plaum möchte den Links-rechts-Gegensatz als Ausdruck des Freund-Feind-Denkens überwinden. Auf diese Weise ist er ein adäquater Erbe von Grundtendenzen der späten Aufklärungszeit. Denker des späten 18. und 19. Jahrhunderts wie der Marquis de Condorcet, Henri de Saint-Simon und Auguste Comte intendieren ausdrücklich, die Herrschaft von Menschen über Menschen in die Geltung von Gesetzen zu transformieren. Bei Plaum heißt das: Die Politik müsse in Zukunft mehr Sachorientierung an den Tag legen und weniger Ideologie. Das Mitglied der Piratenpartei liefert einige Beispiele im Hinblick auf die praktische Umsetzung. Die herkömmlichen Parteien seien obsolet und durch Wahlbündnisse zu ersetzen. Der Parlamentarier solle sich mit anderen Abgeordneten zusammenschließen, wenn es um einzelne Sachfragen gehe.

Beim Bau eines Bahnhofes oder einer Umgehungsstraße entstünden andere Bündnisse als beispielsweise bei der Reform der Krankenversicherung. Man erkennt unschwer, daß Plaum das explizit machen will, was schon seit geraumer Zeit mehr oder weniger die politische Wirklichkeit bestimmt. Die Parteien sind größtenteils austauschbar geworden. Der Vordenker der Piratenpartei will deshalb ausdrücklich, daß das Verbot der Doppelmitgliedschaft in zwei Parteien fällt. Die postmoderne Beliebigkeit ist überall gegenwärtig.

Ein wichtiger Bestandteil der Wiki-Republik ist Wikipedia. Das Open-Source-Projekt hat die Verfügbarkeit des Wissens in ungeahnter Weise verändert. Welche Wurzeln kommen bei diesem Unternehmen zum Vorschein? Es will Kommunikationsformen, die im Zeitalter der Aufklärung erstmals erprobt werden, mit zeitgemäßen, technischen Mitteln wiederholen. Einige Medientheoretiker verorten Wikipedia historisch im Großprojekt der Enzyklopädie, das im 18. Jahrhundert die bedeutenden europäischen Geister in seinen Bann zieht. Die in der Aufklärung entstandenen wissenschaftlichen Akademien wollen explizit eine Wagenburgmentalität vermeiden.

Die Mitglieder dieser gelehrten Einrichtungen stellen Überlegungen an, wie die Bevölkerung am Räsonnement beteiligt werden könne. Man entscheidet, Preisausschreiben auszuloben. Rousseau erlangt nicht zuletzt dadurch Berühmtheit, daß er die Preisfrage der Akademie von Dijon, ob Wissenschaften und Künste die Sitten reiner gemacht hätten, negativ beantwortet. Das Mitmach-Projekt vor zweieinhalb Jahrhunderten mutiert in der unmittelbaren Gegenwart zum Open-Source-Vorhaben. Der Gedanke, der als Annahme im Hintergrund steht, ist sehr einfach: Je größer die Zahl der Mitwirkenden, desto höher die erreichten Wissensstandards. Ein derartiger Zusammenhang leuchtet zwar insgesamt kaum ein; mit Hilfe der Administratoren, die mitunter massiv eingreifen, ist das Vorhaben aber ungewöhnlich erfolgreich.

Vollendet nun die heutige Diskursrealität elektronischer Massenmedien die Aufklärungsutopie? Die Zeit visionärer Konzeptionen, die noch in den 1990er Jahren diskutiert werden, ist mittlerweile vorüber. Durchaus wegweisend ist in diesem Kontext ein Skeptiker wie Jürgen Habermas, der nicht die neuen Möglichkeiten bejubelt, sondern ihre fragmentierenden Konsequenzen beklagt. Hinzu kommen neue asymmetrische Elemente. Es zeigen sich Barrieren zwischen denjenigen, die mit diesen technischen Kommunikationsmitteln bereits sozialisiert werden und denjenigen, auf die das nicht zutrifft.

Ältere neigen dazu, nach Informationen zu suchen und E-Mails zu schreiben. Die Chatrooms werden hingegen zumeist von Jüngeren besiedelt, ebenso die vielzitierten Blogs. Unterhaltendes wird in allen Altersgruppen großgeschrieben. Aus diesen Erkenntnissen ist zu folgern, daß nicht jede Art von Kommunikation und Publizität die Emanzipation fördert, wie große Geister der Neuzeit, von Rousseau über Kant bis Habermas, bezüglich des Face-to-face-Gespräches vermuten. Diese Traditionslinie ist homogenistisch ausgerichtet, nicht fragmentarisch.

Bringt die Wiki-Republik nun das irdische Paradies, das Licht der Transparenz? Zweifel sind angebracht. Die facettenreiche Problematik „Nazi-Leaks“ markiert nur ein Problem von vielen. Daten- und Persönlichkeitsschutz lassen grüßen! Gewiß fördert die Kommunikation via Netz auch symmetrische Elemente. Die Verfasser von elektronischer Post erkennen sich formell als gleichwertig an, selbst dann, wenn sie sich anonym beschimpfen und gelegentlich mobben. Jedoch ist nur ein kleiner Teil der Netzbenutzer an politischer Verständigung interessiert. Die Gepflogenheiten der Jüngeren weichen von denen der Älteren in der Regel deutlich ab.

Das so unterschiedlich verteilte technische Know-how ist entscheidend, in technizistischer Theorie wie auch Praxis mehr als anderswo. Zudem fordert die schiere Masse an Informationen große selektive Fähigkeiten, die selten vorhanden sind. Auf diese Weise wird die emanzipatorische Emphase nicht unerheblich beeinträchtigt. Wer an das Märchen glaubt, Information löse Macht auf oder Sachgesetzlichkeiten träten an die Stelle von Herrschaft, wenigstens in der „Wiki-Republik“, der sei lediglich auf das Katz-und-Maus-Spiel von Administratoren und Mitmachern im Rahmen der Wikipedia-Organisation hingewiesen. Die Hackordnung bleibt letztlich ungeklärt. Soviel nur zur glorifizierten Transparenz.

Was Theoretiker wie Plaum unterschätzen, sind die Gefahren, die die Entpolitisierung in sich birgt. Sie fördert einen Mangel an politischer Identität, der sich im Gemeinwesen fatal auswirken kann. Wozu sich politisch engagieren, wenn ohnehin alle das gleiche wollen und sich alles in der schwer faßbaren Mitte ballt? Der Grund für diese Entwicklung ist nicht nur darin zu suchen, daß viele neue Probleme des Gemeinwesens, von der BSE-Krise über den Handy-Smog bis zur Acta-Problematik, kaum in herkömmliche politische Schemata einzuordnen sind. Darüber hinaus sind Globalisierung und EU-Zentralismus als Hintergrund derartiger „Neutralisierungen“ nicht zu übersehen. Auch Assanges Datenklauprojekte führen letztlich zu einer breit angelegten Entpolitisierung – siehe den Klatsch, den diverse Depeschen enthüllen, die im Zuge der aufsehenerregenden Veröffentlichungen im Herbst 2010 zutage gefördert wurden, von „Teflon-Merkel“ bis zum unerfahrenen Außenminister Guido Westerwelle.

Der Verlust des Politischen im Sinne eines Verschwindens der Wir-Sie-Differenzierung birgt immer die Gefahr, in banaler Langeweile zu enden – einem Zustand, den schon vor über zwei Jahrzehnten Francis Fukuyama prophezeit hat, der die konkurrenzlose Dominanz von Menschenrechten, Demokratie und Marktwirtschaft als „Ende der Geschichte“ bejubelt. Noch heute ist Schmitts Erkenntnis zutreffend, wer den Anderen als Anderen vollständig negiere, könne nichts als „leere Mechanik“ um sich herum erblicken und sei der Verödung des Lebens, dem uneigentlichen „Man“ (Heidegger), näher als einem genuinen Daseinsvollzug. Nicht zufällig perhorresziert Schmitt das grenzenlose Amüsement der „One world“, das freilich mit den Dimensionen der heutigen Spaß- und Konsumgesellschaft kaum zu vergleichen ist.

Krieg und Tod sind dazu extreme Kontrapunkte. Das Absterben ist somit nicht nur pure Faktizität, sondern unabdingbar für das Leben, das als „Vorlaufen zum Tode“ (Heidegger) begriffen werden kann. Im Gegensatz dazu postulieren Trans- und Posthumanisten der Gegenwart häufig als Ziel perfektionierten Lebens, den Tod als Fehler der Natur auszumerzen. Das hört sich menschenfreundlich an. Aber die Folge wäre wohl: Das „ewige Leben“ auf Erden erwiese sich als „schlimmer als der schlimmste Tod“ und „bis zum Unerträglichen langweilig“ (Ernst Nolte). So läßt sich leicht konstatieren: Das Politische im Sinne Schmitts zählt zu den Existenzialien eines veritablen humanen Daseins, und der Meister aus Plettenberg präsentiert sich als Antidot zur intendierten informationstechnischen Auflösung des Politischen und somit als Warnschild vor wesentlichen Konsequenzen der Wiki-Republik.

 

Dr. Felix Dirsch, Jahrgang 1967, Politikwissenschaftler, ist im Schul- und Hochschuldienst sowie in der Erwachsenenbildung tätig. Der Aufsatz basiert auf einem Vortrag bei der 12. Winterakademie des Instituts für Staatspolitik im März 2012.

Felix Dirsch: Authentischer Konservatismus. Studien zu einer klassischen Strömung des politischen Denkens. Lit Verlag, Berlin 2012, gebunden, 392 Seiten, 59,90 Euro. Der Autor legt die ewigen Fundamente konservativen Denkens frei.

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