© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/12 11. Mai 2012

Weltmeister der Hypermoral
Sonderweg: Der Fall der inhaftierten Julia Timoschenko und die deutsche Politik
Thorsten Hinz

Es ist irrational und beängstigend, wie eine ukrainische Seifenoper den deutschen Medien die Schlagzeilen und der Politik die Tagesordnung diktiert. Die Hauptdarstellerin ist eine 52jährige hübsche Brünette, die dadurch weltberühmt geworden ist, daß sie ihre Haare weizenblond einfärbte, zu Zöpfern flocht und sich als Heiligenschein um das Haupt legte. Dieser wohlkalkulierte Homunkulus aus Evita Peron und einem ukrainischen Bauernmädel vermag es, assistiert von ihrer gleichfalls hübschen Tochter, aus der Gefängniszelle die Reisepläne des Bundespräsidenten und der Bundesregierung zu bestimmen und die Fußball-Europameisterschaft ins Wanken zu bringen. Selbst Fußballkapitän Philipp Lahm spult pflichtschuldigst die Bekenntnisse zu Demokratie und Menschenrechten ab, die man von ihm erwartet, und imitiert die DDR-Sportler, denen man sonst ihre Servilität gegenüber der staatlichen Autorität vorwirft.

Kein anderes Land in Europa veranstaltet einen derartigen Hexensabbat um die verurteilte ehemalige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko. Das britische Außenministerium vermeldete knapp, man behalte die Situation im Auge und stimme sich mit den europäischen Partnern ab. Polens früherer Botschafter in Deutschland, der demokratie- und menschenrechtsaffine Janusz Reiter, überlegt nun, gleichsam aus Trotz in der Ukraine Fußballspiele zu besuchen. Polen als Mitausrichter der Europameisterschaft ist ja ebenfalls von der Kampagne tangiert. Nein, die Deutschen haben kein Talent zur Diplomatie. Zu Kaisers Zeiten trumpften sie auf: Hoppla, jetzt kommt die neue Weltmacht! Heute machen sie sich unbeliebt als Welt- und Zuchtmeister der Hypermoral.

Natürlich ist Timoschenkos Kontrahent, Präsident Janukowitsch, ein Krimineller und war der Prozeß, in dem sie zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde, ein politisches Verfahren. Aber erstens gibt es so etwas nicht nur in der Ukraine, und zweitens sind die Vorwürfe nicht unbegründet. Die Haftbedingungen, gegen die sie protestiert, lassen es immer noch zu, daß täglich Nachrichten und Fotos von ihr nach außen dringen. Und welcher Strafgefangene in Deutschland hat schon Anspruch darauf, daß für ihn medizinische Kapazitäten aus dem Ausland eingeflogen werden, um seinen Bandscheibenschaden – nebenbei eine Volkskrankheit – zu begutachten?

Was die Berichterstattung in aller Regel geflissentlich verschweigt, ist die Tatsache, daß es sich bei Frau Timoschenko um eine Oligarchin handelt, die Mitte der neunziger Jahre ein Viertel der Volkswirtschaft ihres Landes kontrollierte. Wer das als normal ansieht, der lebt in der Welt der Schund- oder aber der Kriminalromane, die das Leben unter den Bedingungen der Gesetzlosigkeit schreibt. Timoschenko ist eine Hunderte Millionen schwere „Gasprinzessin“. Sie war die enge Vertraute ihres korrupten Amtsvorgängers Lasarenko, der in den USA, wohin er sich vor den Ermittlungen flüchtete, wegen schwerer Wirtschaftskriminalität eine neunjährige Haftstrafe verbüßt. Zuvor hatte er sich in Kalifornien eine 41-Zimmer-Villa mit vergoldeten Türklinken gegönnt.

Im Februar 2012 berichtete das Schweizer Handelsblatt, daß die Credit Suisse von einem in den USA ansässigen Unternehmen beschuldigt wird, Julia Timoschenko geholfen zu haben, Millionenbeträge an gewaschenem Geld in Sicherheit zu bringen. Sie wird – wie Silvio Berlusconi – nicht ganz uneigennützig in die Politik gegangen sein, ihr ging es um die damit verbundene Immunität. Im eigenen Land will niemand mehr etwas von ihr wissen, sogar der ehemalige Präsident Juschtschenko, ihr Mitstreiter in der „Orangenen Revolution“ von 2004, mag sich zu ihrer Verurteilung nicht äußern.

Frau Timoschenko hat sich gründlich verzockt. Sie hatte schon einmal, 2001, im Gefängnis gesessen, um nach 41 Tagen als Jeanne d’Arc der Demokratie in die politische Arena zurückzukehren. 2004 gelang es ihr, die Präsidentschaft ihres Erzfeindes Janukowitsch durch wochenlange, orangefarbene Proteste zu verhindern, dem sie dann 2009 in der Präsidentenwahl demokratisch unterlag.

Von dem Prozeß, den Janukowitsch gegen sie wegen ungünstiger Gasverträge anstrengte, versprach sie sich eine Wiederholung des Jeanne-d’Arc-Effekts. Sie behandelte Richter und Staatsanwalt mit demonstrativer Nichtachtung, bezeichnete sie als „Affen“ und „Ungeheuer mit Handgranate“ und twitterte während des Verfahrens. Inzwischen mußte sie erkennen, daß sie die Härte ihrer Gegner unterschätzt hat. Es drohen ihr weitere Ermittlungen, sogar von der Verwicklung in einen Mord ist die Rede. Sie hat ein Chodorkowski-Schicksal vor Augen, dem sie mit einer Propaganda-Offensive im Vorfeld der Fußball-Europameisterschaft zu entgehen versucht. Mit ihrem Hungerstreik hat sie den Einsatz nochmal erhöht.

Welchen Grund aber hat Deutschland, sich in diese Auseinandersetzung einzumischen und von Timoschenko instrumentalisieren zu lassen? Die Wahrheit ist, daß sich die Parteinahme auf Politik und Medien beschränkt, während die Leser in den elektronischen Kommentarspalten sich durchweg kritisch äußern. Zwei Gründe fallen einem spontan ein: Zum einen ist diese vorgebliche demokratische Lichtgestalt ein Geschöpf von George Soros, den die deutsche Presse als „Starinvestor“ hofiert, was vornehmer klingt als Spekulant oder Heuschrecke. Soros hat die „Orangene Revolution“ mitfinanziert, wie er sich überhaupt um die Implementierung des liberalen Kapitalismus in Osteuropa bemüht. Sollte gerichtsnotorisch werden, daß er eine Wirtschaftskriminelle favorisiert hat, würden seine Demokratie- und „Open-Society“-Projekte generell in Verruf geraten. Die Timoschenko-Kampagne brach los, kurz nachdem Soros sein Buch zur Finanzkrise in Berlin vorstellte. Von den Deutschen erwartet er, ihre Stabilitätsvorstellungen über Bord zu werfen und mit ihrem Vermögen für das europäische Schuldenchaos zu haften.

Der zweite Grund: Timoschenko ist wegen schlechter Verträge verurteilt worden, die sie als Regierungschefin abgeschlossen hat. In dem Zusammenhang fallen Begriffe wie Machtmißbrauch und Regierungskriminalität. Kann es sein, daß die politische Klasse in Deutschland fürchtet, wegen der Fehlentscheidungen um den Euro eines Tages mit ganz ähnlichen Vorwürfen konfrontiert zu werden? Ist ihre Solidarität mit Timoschenko vor allem Daseinsvorsorge in eigener Sache?

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