© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/12 11. Mai 2012

Reise in die Vergangenheit
Frankreich: François Hollande will sein Land aus dem Tal der Tränen führen / Experten fürchten Stagnation
Markus Brandstetter

Der französische Wahlkampf ist entschieden: Der Sozialist François Hollande ist neuer Präsident. Aber merkwürdig: Soviel im Wahlkampf über die Islamisierung Frankreichs, die offenen Grenzen und die verbindende oder trennende Kraft der abendländischen Kultur gestritten wurde, sowenig war von den Immigranten selbst die Rede. Das ist aber ein wichtiger Punkt, denn Frankreich hat mehr geringqualifizierte Immigranten als jedes andere EU-Land.

Damit in den Banlieues nicht dauernd die Autos brennen, müssen die Menschen von der Straße geholt werden, und da kein Unternehmen solche Mitarbeiter will, muß der Staat sie nehmen. Kein Wunder, daß Frankreich eine der höchsten Staatsquoten in der EU aufweist. Mehr als 55 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt machen die Staatsausgaben aus – viel mehr als in der Bundesrepublik (45 Prozent), in Spanien (49 Prozent) oder den USA (40 Prozent). In Deutschland kommen auf 100 Bürger fünf Staatsbedienstete, in Frankreich sind es neun. Die Arbeitslosenquote liegt bei zehn Prozent – seit 30 Jahren ist sie nicht mehr unter sieben Prozent gefallen. Exakt zur Präsidentenwahl hat sie ein Dreizehn-Jahres-Hoch erreicht: 2,88 Millionen Franzosen sind nun arbeitslos, ein Viertel davon Menschen unter fünfundzwanzig. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 2,96 Millionen, was einer Quote von 7,0 Prozent entspricht.

Die wahren Probleme Frankreichs liegen aber in der mangelnden Produktivität der Franzosen, in den hohen Arbeitskosten, dem Außenhandelsdefizit von 70 Milliarden Euro und der Staatsverschuldung, die 86 Prozent vom Bruttosozialprodukt ausmacht.

Vor zwölf Jahren lagen die Lohnstückkosten in Frankreich um acht Prozent unter denen in Deutschland, heute liegen sie zehn Prozent darüber. Der französische Mindestlohn, „SMIC“ genannt, ist der höchste der Welt. In den letzten sieben Jahren hat er sich fast verdoppelt und liegt nun bei 9,22 Euro in der Stunde respektive bei 1.394 Euro brutto im Monat – bei einer 35-Stunden-Woche. Die Arbeitsgesetzgebung ist noch beschäftigungsfeindlicher als in Deutschland. Wer einen Arbeitsvertrag hat, kann kaum mehr gekündigt werden, was dazu führt, daß junge Menschen gar nicht erst eingestellt und alte Hasen früh in Rente geschickt werden.

In der Wirtschaft liegen Licht und Schatten dicht beieinander: 39 der größten 500 Unternehmen auf der ganzen Welt kommen aus Frankreich. Damit kann kein anderes EU-Land mithalten, auch Deutschland nicht. Frankreich besitzt ein weltweit führendes Unternehmen in praktisch allen Industriezweigen, vom weltgrößten Versicherer AXA über den Kosmetikriesen L’Oréal bis zum Lebensmittelkonzern Danone. Die Franzosen leben mit den Jobs und dem Wohlstand, den diese Unternehmen ihnen gebracht haben, sehr gut, aber dankbar dafür sind sie nicht. Gewerkschafter und Linksintellektuelle bekommen im Fernsehen viel mehr Redezeit als Unternehmer und Ökonomen und dürfen dafür Wirtschaft und Unternehmen hemmungslos denunzieren. Zwei Drittel der Franzosen zweifeln an der freien Marktwirtschaft, mißtrauen dem Kapitalismus, lehnen Globalisierung und Freihandel ab und sehen ihr Land in den Klauen einer Verschwörung des internationalen Finanzkapitals.

Das sind nur einige der Probleme, die der neue französische Präsident lösen müßte, aber so wie der scheidende Präsident Sarkozy dazu nicht in der Lage war, wird Hollande es auch nicht sein. Bei Sarkozy war der Fall klar: Der war sein Leben lang ein politisches Chamäleon, bar jeder Überzeugung, eine männliche Merkel, aber ohne deren Fähigkeit zu kühlem Kalkül und machtpolitischer Taktik. Überheblich, unbeherrscht und unberechenbar begann Sarkozy als überzeugter Europäer, der Staat und Gesellschaft laserschnell umbauen wollte, und endete als hektischer Populist, dem – die Niederlage vor Augen – plötzlich Frankreichs christliche Traditionen und seine ehemals geschlossenen Grenzen wieder einfielen. Geholfen hat dieser Schlingerkurs aber nicht Sarkozy, sondern seinem Nachfolger, der nie einen Wahlkampf mit eigenen Ideen führen mußte, sondern sich nur als Anti-Sarkozy zu präsentieren brauchte, um gewählt zu werden.

Der neue französische Präsident ist 57 Jahre alt, Vater von vier unehelichen Kindern und ein Mensch, der weder Unternehmer noch Manager noch Reiche mag. Obwohl er an den Elitehochschulen der Republik studiert hat, ist er kein tiefer Denker. „Je n’aime pas les riches“, hat er einmal gesagt, und damit war der Fall erledigt. Hollande redet viel von Fairneß, Gleichheit und Gerechtigkeit, aber wenig von Frankreichs wahren Problemen. „Monsieur Normal“, wie er genannt wird, ist zwar Rechtsanwalt und Verwaltungsbeamter, hat aber nie in der Wirtschaft, sondern immer nur als Parteifunktionär gearbeitet und kennt nur die Hinterzimmer der Macht. Hollande ist ein Sozialdemokrat alten Schlages, François Mitterand sein geistiger Ziehvater und der Sozialismus der frühen 1980er Jahre seine politische Heimat. Dahin will er wieder zurück – und deshalb haben die Franzosen ihn auch gewählt.

Wie die Reise in die Vergangenheit funktioniert, weiß Hollande ganz genau: durch höhere Steuern und mehr Staat. Angefangen wird ganz oben. Die 3.000 Franzosen, die mehr als eine Million Euro im Jahr verdienen, sollen zukünftig 75 Prozent an Steuern abführen. Das spült zwar keine Milliarden in die Staatskassen, bedient aber komfortabel Ressentiments. Die Arbeitslosigkeit will der neue Präsident dadurch senken, daß der Staat 60.000 neue Lehrer einstellt. Auf EU-Ebene will er einen Wachstumsplan initiieren und den im März unterzeichneten Fiskalpakt, durch den sich die EU-Mitglieder auf strenge Obergrenzen für die Staatsschulden geeinigt haben, gleich wieder kippen.

Noch am Tag vor der Wahl haben 21 französische Wirtschaftsprofessoren in einem offenen Brief prognostiziert, was Wirtschaftspolitik à la Hollande hervorbringen würde: ein Frankreich der „wirtschaftlichen Stagnation“, gekennzeichnet von „Arbeitslosigkeit, Armut und stetig steigender Verschuldung“. Es besteht nun die reale Gefahr, daß die EU endgültig in eine Nord- und eine Süd-Zone zerfällt und die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU unstabil und unkalkulierbar wird.

Die lachende Dritte in dieser epischen Auseinandersetzung zwischen Markt und Staat, Freiheit und Sozialismus, Traditionen und ihrer Zerstörung ist Marine le Pen, der es in einem couragierten Wahlkampf gelungen ist, 18 Prozent der Franzosen hinter sich zu scharen. Le Pens Front National ist im ersten Wahldurchgang aus einem Fünftel der Départements als stärkste politische Kraft hervorgegangen. Le Pen verspricht sich nun einen „Coup de pouce décisif“, also den entscheidenden Schub für ihren Einzug in die Nationalversammlung im Juni. Ihre Chancen dafür stehen so gut wie nie. Ob sie den Niedergang Frankreichs aufzuhalten vermag, ist fraglich.

Hollande stammt nämlich, wie der Romancier Gustave Flaubert, aus Rouen, einem Städtchen in der Normandie, das für die Sturheit seiner Bewohner bekannt ist. Es könnte also sein, daß der Sozialist Frankreich zehn Jahre lang regieren und in der EU genauso lange an den Stellschrauben der Finanz- und Wirtschaftspolitik drehen wird.

Foto: François Hollande feiert seinen Sieg bei der Präsidentschaftswahl: „Mehr Gleichheit und Gerechtigkeit“

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