© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/12 04. Mai 2012

Erneuerung aus den Wurzeln
Der Philosoph Harald Seubert über Europa, Konservatismus und bürgerliche Identität
Klaus Hornung

Europa befindet sich in seiner schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, genauer: in den Fängen globaler Finanzmächte, die verstanden haben, Regierungen, Parlamente und Millionen Menschen und Steuerzahler zu Geiseln zu nehmen. Ihnen gelingt auch, die Fragen nach den Ursachen dieses Niedergangs und nach den Verantwortlichen mit den Methoden der Political Correctness weitgehend unter der Decke zu halten. Freilich haben schon vor Jahren Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gezeigt, daß das Europa der Finanzjongleure und Konzerne bei der Mehrheit der Menschen jeden Kredit verloren hat. In Deutschland sind die Stimmen der Skepsis und Ablehnung dieses Europa zögernd, aber doch stetig lauter geworden.

Nun macht Harald Seubert auf die tieferen Gründe der europäischen Krise aufmerksam und schließt die Quellen auf zu einer Erneuerung des alten Kontinents im Erbe seiner besten Überlieferungen. Seubert sieht klar, daß das Europa, das nach dem Zweiten Weltkrieg ein Projekt des Zukunftswillens war, inzwischen in einen Zustand des Niedergangs eingetreten ist, weil es sein proprium, seinen Wesenskern verleugnet und vergessen hat. Er ist der Überzeugung, daß nur eine konservative Renaissance die Kräfte in Europa wecken kann, die fähig sind, den Kontinent zu Selbstbewußtsein und neuer Kraft zu führen.

Sein Verständnis von Konservatismus hat deshalb nichts zu tun mit seiner Begründung etwa aus dem deutschen Sonderweg und Nationalismus. Es gründet vielmehr in der großen europäischen Synthese aus christlichem Glauben, klassischer griechischer Vernunftphilosophie und römischem Staats- und Rechtsdenken bis hin zur europäischen Aufklärung mit ihren Höhepunkten bei Kant und Hegel, die dann im Jakobinismus und politischen Messianismus des 20. Jahrhunderts in die europäische Katastrophe absank. Seubert sieht die Quintessenz der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte in den drei Kraftströmen, die Theodor Heuss einmal in das Bild der drei weltgeschichtlichen Hügel faßte: des christlichen Golgatha, der Athener Akropolis und des Kapitols in Rom, die eine als Symbol der griechischen Philosophie und das andere als Ausgangsort der europäischen Staats- und Politiktradition, in der sich die klassischen politischen Institutionen des freiheitlichen Staates und die Freiheit der Person entfalten konnten.

In diesem Erbe, so Seubert, sind auch die „entscheidenden Grundlagen“ des europäisch geprägten Konservatismus verankert, der seine Gestalt nicht zuletzt durch die „essentielle Bedeutung“ der christlichen Botschaft und in ihrem Verhältnis zur menschlichen Vernunft gewinnt, das nicht auf den Gegensatz, sondern auf wechselseitige Ergänzung und Korrektur angelegt ist. In diesem Erbe wurzeln insbesondere die tragenden Institutionen – von der Familie bis zum Staat – , die die Funktionsfähigkeit des politischen Ganzen und zugleich die Freiheit der Person sicherzustellen vermögen.

Im internationalen Umfeld geht es in dieser Tradition um die zentrale Bedeutung der Kategorie des Interesses der (National-)Staaten, die sich nicht a priori den globalistischen Mächten unterwerfen, sondern ihre dialektische Aufgabe in einer immer neuen vernünftigen Balance zwischen Patriotismus und Universalismus, Globalinteressen und den Interessen der Völker, Kulturen, Staaten und Regionen erkennen. Hier ist Seuberts Nähe zu Carl Schmitts Skepsis gegen die modernen imperialen Ordnungen und Großraum-Ansprüche unverkennbar, ebenso aber auch seine Distanz zu einem traditionellen deutschen Konservatismus, dessen Ausgangspunkt in der Diskontinuität der Nationalstaaten nach dem Ersten Weltkrieg er nicht teilen kann, ebensowenig wie etwa den „Paganismus“ Armin Mohlers.

Diese Verankerung des Konservatismus im Erbe der europäischen Synthese ist auch der Grund dafür, daß Seubert Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im Sinne der europäischen societas civilis ausdrücklich als „Kern“ dieses Konservatismus versteht.

Hier mag er auf nicht geringe Skepsis manches konservativen deutschen Zeitgenossen treffen. Vollzieht er damit den Übertritt zu jener liberalen „bürgerlichen Mitte“, die gerade in der Geschichte der Bundesrepublik eine nicht sehr rühmliche Rolle spielte und spielt und sich derzeit immer mehr in der Abwärtsspirale befindet? Armin Mohler hätte höhnisch von einem harmlos-unpolitischen „Gärtner-Konservatismus“ gesprochen. Seubert ist sich jedoch der politischen Schwächen des Bürgertums in der neueren deutschen Geschichte bewußt. Es geht ihm nicht darum, etwa die sozialen Interessen des Bürgertums als Schicht zu wahren oder neu zu rechtfertigen. Ihm geht es vor allem um das bürgerliche Ethos und seine Erneuerung, nicht zuletzt im Blick auf die dringenden Aufgaben im Bereich der Bildung.

Deren zentralen Rang sieht Seubert darin, daß sie die Menschen unserer Gegenwart wieder befähigen soll, „sich von dreitausend Jahren Rechenschaft geben“ zu können und damit der erkennbaren Tendenz zur Fellachisierung in der heutigen Industrie- und Konsumgesellschaft entgegenzuwirken. „Bürgerlich“ ist dann aber auch etwa eine Integrationspolitik, die die Aufnahme von Millionen Zuwanderern nicht durch eine „restlose Indifferenz“ gegenüber der eigenen Gesellschaft, ihren Interessen und Werten praktiziert.

Die Staatsbürger, die citoyens, sind zum aktiven Schutz des freiheitlichen Gemeinwesens verpflichtet und sie haben sich zu wehren gegen die heute allenthalben spürbaren Beschneidungen der Meinungsfreiheit und gegen die Sprachregelungen der politischen, medialen und ideologischen Kommandohöhen. Bürgerliches Ethos meint nicht zuletzt die Achtung vor Religion und Glaubensüberzeugungen sowie die Erkenntnis, daß Tugenden den Kernbestand freiheitlichen Lebens und einer verläßlichen gesellschaftlichen und politischen Ordnung zu sichern haben. Es geht um die klassische und urbürgerliche Forderung Platons, daß Freiheit stets nur aus Mut erwächst.

Seubert sieht schließlich unsere Universitäten durch die famosen Bologna-Reformen auf dem Weg zur Züchtung einer „Mainstream-Uniformität“ mit dem fatalen Ergebnis, daß kommende Generationen kaum mehr in der Lage sein werden, aus dem Wissen um die Herkunft die entscheidenden Fragen der personalen und politischen Existenz in der Gegenwart und Zukunft überhaupt noch zu erkennen, zu formulieren und zu beantworten. Die Gefahr zeichnet sich für die nachdenklichen Zeitgenossen ab, daß wir einer Gesellschaft von in der bloßen Gegenwart dahindümpelnden Produzenten und Konsumenten (Herbert Kremp) entgegengehen, die sich mit der Herrschaft meinungs- und verhaltenssteuernder Oligarchien abfinden. Die Euro-Krise mit allen ihren Erscheinungen könnte sich als die Ouvertüre dieser Zukunft erweisen.

Das Fazit von Seuberts Analyse mündet in dem Aufruf zu Widerspruch und Abwehr gegen diesen Weg in die Dekadenz, auf dem Europa zu einer globalen Weltregion wie andere „zwischen Krasnojarsk und Omaha“ (Albrecht Haushofer) herabsinkt, zu einem Herrschafts- und Ausbeutungsobjekt anonymer finanzkapitalistischer Mächte. Der Autor stellt dieser Gegenwart den Entwurf eines Gegenbildes entgegen, einer Alternative zu der heutigen „Diktatur des Relativismus“, die sich immer deutlicher als die eigentliche Ursache der Krise erweist und im Westen längst zu einer die überkommenen Fundamente auflösenden Zivilreligion geworden ist.

Die Formel stammt von Papst Benedikt XVI. und sie wird auch von dem Lutheraner Harald Seubert aufgenommen mit dem Appell, diesen Status quo zu überwinden durch seine „Re-formatio“ und durch die „Mitgestaltung einer Zukunft, die aus Quellen lebt, die die Moderne sich nicht selbst geben kann“. Der Autor steht mit diesem Appell nicht allein. Führende Zeitgenossen in Europa auch aus anderen Lagern wie Jürgen Habermas, der „religiös unmusikalische“ Sozialwissenschaftler, wie er von sich selber sagt, oder der italienische Philosoph und Agnostiker Marcello Pera teilen die Analyse, daß die Ursachen der heutigen Selbstzerstörung Europas im Verlust seiner Wurzeln zu suchen sind und daß der Niedergang nach menschlichem Ermessen durch eine neue Synthese von Glauben und Vernunft, die aus den Quellen Europas schöpft, überwunden werden soll und kann.

Harald Seubert: Was wir wollen können. Bürgerliche Identität im 21.Jahrhundert. Verlag Inspiration Un Limited, Hamburg 2011, gebunden, 220 Seiten, 19,90 Euro

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