© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/12 04. Mai 2012

Vorwände zur Geschichtsklitterung
In den Vierteljahrsheften widmet sich der Historiker Markus Krzoska den Opferzahlen des „Bromberger Blutsonntags“ 1939
Stefan Scheil

Der Mythos vom unprovozierten Überfall auf Polen im Jahr 1939 gehört bekanntlich zu den zentralen Legenden des bundesrepublikanischen Geschichtsbilds. Weil dies so ist, sind in diesem Zusammenhang bereits simple Tatsachenfeststellungen skandalfähig. Dies mußte beispielsweise Erika Steinbach nach ihrem Verweis auf die von Polen als erstes angeordnete Mobilmachung vom März 1939 feststellen. In der Sache ist das nicht anzuzweifeln, als öffentliche Äußerung aber unerwünscht.

Um so skandalbehafteter sind natürlich die Vorgänge des Jahres 1939, die nicht völlig eindeutig geklärt werden konnten. Dazu gehört der „Bromberger Blutsonntag“, den die polnische Geschichtspflege gern als „Bromberger Provokation“ präsentiert. Sicher ist: In der auf polnischem Staatsgebiet liegenden Stadt Bromberg und in ihrer Umgebung wurden Anfang September 1939 mehrere hundert, nach einigen Angaben sogar fast tausend deutsche Einwohner mit polnischem Paß durch polnisches Militär und Zivilisten getötet. Folgt man der meistgegebenen polnischen Deutung, so war das die Konsequenz eines versuchten Aufstands. Viel spricht allerdings dafür, daß es sich schlicht um unprovozierten Mord und Totschlag an Wehrlosen handelte, was als Konsequenz jahrelanger Volksverhetzung und gezielter Politik der polnischen Regierung im September 1939 auch in anderen Regionen an den in Polen lebenden Deutschen stattfand.

Die Münchner Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte widmen der Frage nach der Zahl der in Bromberg getöteten Deutschen in ihrem aktuellen Frühjahrsheft einen eigenen Beitrag. Verfaßt hat ihn der Osteuropahistoriker Markus Krzoska, der vor einigen Jahren mit einer interessanten Dissertation über die Vorkriegspropaganda des polnischen Historikers Zygmunt Wojciechowski für „ein Polen an Oder und Ostsee“ (JF 23/04)hervorgetreten ist. Allerdings folgte auch Krzoska einer verharmlosenden Linie und verklärte diese damals in Polen vielerorts und mit brutalem Ernst vorgetragene politische Forderung zur „radikalen Einzelstimme“.

Im Jahr 1939 war es dann soweit. Die polnische Nationaldemokratie rief im Frühjahr offen zur Eroberung Deutschlands bis zu Oder und Neiße auf. Schuld am Krieg sollten die Deutschen sein, aber jetzt würde er kommen, und es müsse diese Linie erreicht werden. Westlich davon seien dann kleine deutsche Pufferstaaten zu errichten. Von Regierungsseite wurde dies geduldet und gefördert. Man legte Listen zu verhaftender Deutscher an, bereitete Lager vor und stimmte die Bevölkerung noch einmal verstärkt auf den deutschen Feind ein, der angeblich an der nächsten Ecke wohnen würde. Sein Existenzrecht hatten ihm polnische Historiker in den Vorkriegsjahren vielfach grundsätzlich abgesprochen. Die ganz Radikalen führten den polnischen Begriff für deutsch ohnehin auf den germanischen Stamm der Nemeter zurück. Dem seien die friedlichen Polen damals zuerst begegnet, als er sie überfiel und verdrängte – von ihrem angestammten Wohnsitz am Rhein.

Diese Wahnwelten forderten ihren blutigen Tribut. In ganz Polen starben fast fünftausendfünfhundert deutsche Zivilisten, nicht eingerechnet die deutschstämmigen Soldaten der polnischen Armee, die vielfach interner Gewalt ausgesetzt waren. Krzoska berechnet in den Vierteljahrsheften die Zahl der deutschen Bromberger Toten nach Ausbruch der Kampfhandlungen mit mindestens vierhundert. Ganz genau läßt sich diese Zahl nach seinen Angaben nicht ermitteln. So ist es im nachhinein nicht eindeutig festzustellen, wer denn nun ethnisch gesehen ein Deutscher war. Namen und Religion geben Hinweise, Aussagen liefern weitere Bestätigungen, aber ob eine Person ein Opfer der polnischen Deutschenhatz war oder den allgemeinen Kriegsereignissen oder der gewalttätigen deutschen Antwort zum Opfer fiel, die Bromberg dann im September erlebte, muß manchmal offenbleiben.

Immerhin zeugt die Angabe von vierhundert deutschen Toten in Bromberg vom Willen zur Seriosität. Das soll nicht herablassend klingen. Es ist nur ein paar Jahre her, als eine vom Deutschen Historischen Institut in Warschau verantwortete Ausstellung für Bromberg eine Zahl von dreißig Toten nannte, die dann nach Protesten überklebt und durch Angaben von etwas über hundert ersetzt wurde. Dies konnte, nein mußte man als Historiker schon immer besser wissen.

Bemerkenswerterweise ist auch die Zahl von vierhundert augenblicklich in den Strudel geschichtspolitischer Desinformation geraten. Für solche Angelegenheiten ist bei der Tageszeitung Die Welt der Redakteur Sven Felix Kellerhoff zuständig, dessen allzu offensichtliche Fehlleistungen mittlerweile allerdings eher den Bereich der Peinlichkeit erreicht haben. Kellerhoff nahm Krzoskas Ergebnisse in einem Vorabbericht zum Anlaß, in der Welt die Zahl vierhundert gegen die damals ermittelte Gesamtzahl der in Polen ermordeten Deutschen auszuspielen. Das Auswärtige Amt hätte „im November 1939 die Zahl von 5.437 volksdeutschen Opfern polnischer Übergriffe in und um Bromberg“ genannt. Diesen von niemandem je behaupteten Unfug bekamen die Leser serviert, zusammen mit der aberwitzigen Überschrift, der Bromberger Blutsonntag (3./4. September) habe den „Nazis den Vorwand“ für den Angriff auf Polen geliefert, der bekanntlich schon am 1. September stattfand.

Jetzt sollen sich Deutsche und Polen laut Kellerhoff auf die Zahl von vierhundert deutschen Toten „stützen“, die anderen fallen unter den Tisch, zusammen mit den polnischen Eroberungsgelüsten von 1939. Joseph Goebbels ordnete damals an, die Gesamtzahl der Toten zu verzehnfachen und offiziell von achtundfünfzigtausend zu sprechen. Daß im Jahr 2012 der Versuch unternommen wird, sie statt dessen auf weniger als ein Zehntel zu reduzieren, erscheint konsequent. Lebenslügen haben manchmal erstaunlich lange Beine. Als Stütze sind sie dennoch nur begrenzt geeignet. Dafür kann niemand etwas.

www.oldenbourg-verlag.de

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen