© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/12 04. Mai 2012

Europas Stellvertreterkrieg
Der vor zwanzig Jahren ausgebrochene Bosnienkrieg offenbarte alte Bruchlinien in der außenpolitischen Konzeption der europäischen Mächte
Carl Gustav Ströhm

Wenn man in den Medien den Begriff Bosnienkrieg hört, wird dieser umgehend mit den Begriffen Bürgerkrieg, Nationalismus und ethnische Säuberung in Verbindung gesetzt. Zwanzig Jahre nach Beginn dieses Krieges zwischen den bosnischen Moslems, Kroaten und bosnischen Serben in der jugoslawischen Teilrepublik Bosnien-Herzegowina ist dieser Konflikt im europäischen historischen Gedächtnis tabuisiert. Noch heute scheinen die Europäer nicht zu verstehen, warum dieser Vielvölkerstaat auf solch blutige Art und Weise zerfallen ist.

Die bestmögliche und einfachste Begründung liegt für viele in der historischen Bedeutung dieser Region. Angefangen mit dem Türkensturm, über die Schüsse auf den österreichischen Thronfolger 1914 bis hin zu den brutalen Kämpfen zwischen Tito-Partisanen und der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, war die Geschichte dieser Region immer wieder von blutigen Auseinandersetzungen geprägt. Die eigentliche Vereinfachung des Westens für diesen Konflikt liegt in der Theorie der allgemeinen Schuld der Kriegsparteien. Die alten Ideale aus der Zeit des Diktators Josip Broz, genannt Tito, also Brüderlichkeit und Einigkeit, werden wieder ausgegraben. So erklärt sich die zögerliche Haltung der westlichen Staaten auf diesen Krieg, da sie diese ethnisch gemischte Region mit ihren verschiedenen Kriegsparteien nicht richtig einschätzen konnten.

In Wahrheit zeigte gerade der Krieg in Bosnien-Herzegowina, daß alte Bündnisse erneuert wurden und alte Rivalitäten weiter bestanden. Es stellte Europa vor seine größte außenpolitische Zerreißprobe seit 1961, denn der Bosnienkrieg war vor allem ein Stellvertreterkrieg in Europa, aber auch anderer Großmächte, wie zum Beispiel der USA und Rußland. Man kann sogar sagen, daß dieser Konflikt ein Nachspiel des Zweiten Weltkrieges war, indem man all das beglich, was unter dem Tito-Regime unter den Teppich der Brüderlichkeit und Einigkeit gekehrt wurde. So kam es immer wieder innerhalb der Europäischen Gemeinschaft zu Meinungsverschiedenheiten, wie man diesen Krieg beenden könne.

Es gab zwei grundlegende Parteien in diesem Konflikt, nämlich jene, die für den Erhalt Jugoslawiens unter serbischer Führung waren, also Länder wie Frankreich, Großbritannien und die Niederlande. Auf der anderen Seite Länder, die für die Unabhängigkeit der verschiedenen Staaten und Nationalitäten plädierten, wortführend Deutschland und Österreich. Schon im Kroatienkrieg im Jahre 1991 zeigte sich die tiefe diplomatische Zerrissenheit, vor allem zwischen Großbritannien und Deutschland. Im Bosnienkrieg stieß insbesondere die demonstrative Zurückhaltung Großbritannien auf. Die entlarvenden Worte des damaligen EU-Sonderbeauftragten für Bosnien, Lord David Owen, die Menschen in Bosnien dürften nicht erwarten, daß der Westen all ihre Probleme regeln wird, spiegelte die Ohnmacht Europas wider.

Der Krieg in Bosnien war vor allem von serbischer Seite sehr gut vorbereitet und vor allem kalkuliert worden. Die Tatsache, daß sich Europa in dem vorangegangenen Kroatienkonflikt nur sehr widerwillig einmischte und von verschiedenen europäischen Mächten sogar weiterhin eine jugoslawische Lösung unter serbischer Führung erwünscht war, ermunterte den damaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milošević, militärisch in Bosnien Fakten zu schaffen. Die serbische Heeresleitung ließ Armeeangehörige und Reservisten mit bosnisch-serbischem Hintergrund mitsamt schweren Waffen nach Bosnien schicken. Ziel Belgrads war es, die serbischen Gebiete in Bosnien von Moslems „ethnisch zu säubern“, um diese dann an das serbische Mutterland anschließen zu können.

Die bosnischen Moslems formierten wiederum schon zwei Jahre vor dem Krieg die sogenannte Patriotische Liga, welche zuerst leicht bewaffnet, bosnische Enklaven vor drohenden serbischen Übergriffen schützen sollte. Als dann im April 1992 bosnische Serben rund um die Hügel von Sarajevo einen Belagerungsring aufbauten und somit die Stadt fast vier Jahre lang in ihrem Würgegriff hatten, breitete sich der Krieg im ganzen Land aus. Die Serben griffen gezielt die serbisch dominierten Gebiete an bzw. solche, in denen Moslems als Minderheit wohnten, während die bosnische Armee, anfangs noch mit, dann ohne die Kroaten diese Gebiete verteidigte. Schließlich befanden sich die Bosnier ein Jahr lang im direkten Kampf mit kroatischen Einheiten aus der Herzegowina.

Zwischen zwei Fronten kämpfend, ersuchte der damalige bosnische Präsident, Alija Izetbegović, Hilfe von außen. Izetbegović wird noch heute im Westen als eine „unbefleckte“ Figur des Krieges dargestellt, obwohl er wahrscheinlich die radikalsten Ansichten aller drei Konfliktparteien hatte. In seinen früheren Werken, welche er als Dissident im sozialistischen Jugoslawien schrieb, liebäugelte er oft mit islamistischen Grundsätzen und sprach sich für ein rein moslemisches Bosnien aus. So unterstützten ihn auch während des Krieges islamische Staaten, vor allem Saudi-Arabien und die Türkei.

Als die Gefahr für die bosnische Armee, von den Serben beinahe aufgerieben zu werden, am größten war, rief Izetbegović zum „Heiligen Krieg“ gegen diese auf. Diesem Ruf folgten viele Gotteskämpfer, so zum Beispiel die Mudschaheddin-Brigaden, die in Bosnien bald denselben zweifelhaften Ruf genossen wie die berühmt berüchtigten Četniks (serbische Freischärler). Die bosnische Regierung dankte es ihnen nach dem Krieg, verpaßte ihnen bosnische Namen und siedelte sie größtenteils in Mittelbosnien an.

Man nimmt an, daß heute einige dieser Mudschaheddin-Krieger sogar mit der islamistischen al Qaida in Verbindung stehen. Eine weitere, wahrscheinlich noch viel wichtigere Rolle während des Bosnienkrieges spielten die Vereinigten Staaten. Sie lieferten trotz des Waffenembargos Waffen an alle Kriegsparteien und entsendeten unter anderem auch Militärberater an die Kroaten und Bosnier. Warum sich die Amerikaner gerade in diesem Krieg so engagierten und es trotzdem immer so aussehen ließen, daß dieser Krieg ein rein europäisches Problem sei, hat mehrere Gründe. Zum einen wollten sie die restliche Dominanz der Russen, die traditionell enge Bindungen an die serbische Regierung pflegten, in dieser Region bzw. am Balkan endgültig beenden. Und zum anderen sollte die Hilflosigkeit der europäischen Nationen und die Beherztheit der USA zeigen, daß Europa einen Krieg auf dem eigenen Kontinent nur mit amerikanischer Hilfe beenden kann. Durch die Waffenlieferungen an die verschiedenen Parteien hielten sie den Krieg stets am Laufen.

Erst mit den offenbarten Massakern von Srebrenica 1995 unter den Augen niederländischer Uno-Blauhelmsoldaten und dem darauf folgenden Druck der Vereinten Nationen beschlossen die USA, nun auch direkt zu intervenieren. Mit dem Vertrag von Dayton, der den Krieg 1995 offiziell beenden sollte, hinterließen sie schließlich ein politisches Pulverfaß. Die Föderation Bosnien und Herzegowina setzte sich weiterhin aus der sogenannten Republika Srpska, also dem serbisch dominierten Teil, und der Föderation zusammen. Innerhalb der Föderation sind mittlerweile auch die Dörfer und Städte zwischen Kroaten und bosnischen Moslems „ethnisch rein“. Der Traum eines multikulturellen Bosnien, wie es Tito schon zuvor mit seinem Weg von Brüderlichkeit und Einigkeit anstrebte, wurde für viele Menschen zum Alptraum. Jener Alptraum wurde vor allem von den westlichen Mächten am Leben erhalten – weiterträumen müssen ihn nun die Menschen in Bosnien.

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